Nicht mehr blank

Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zeichen der Zeit erkannt und Wladimir Putins verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für eine dramatische Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik genutzt. Gut so

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Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Zeichen der Zeit erkannt und Wladimir Putins verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine für eine dramatische Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik genutzt. Gut so

Über den 24. Februar 2022 und die Tage danach wird einmal viel in Geschichtsbüchern stehen. In den frühen Morgenstunden schickte Russlands Präsident Wladimir Putin seine Kampfflugzeuge, „Speznas“-Spezialkräfte, Panzer, Fallschirmjäger und vieles mehr in die Ukraine und begann einen großangelegten Krieg gegen ein demokratisches Nachbarland, um es zu unterwerfen – das gab es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.

Dem Mut und der Tapferkeit der ukrainischen Verteidigerinnen und Verteidiger, die in der ersten Woche Putins Blitzkrieg-Strategie zunichte machten, gebühren die größten Kapitel in dieser Erzählung, deren Ausgang ungewiss ist. Der Herr im Kreml hat auf die Rückschläge mit einer Belagerungsstrategie gegen die großen ukrainischen Städte reagiert, die unendliches Leid über die Zivilbevölkerung bringt. Derweil erlebt Russlands Wirtschaft aufgrund international abgestimmter Sanktionen eine nie dagewesene Talfahrt.

Eine Episode, die sich parallel dazu in Berlin abgespielt hat, tritt vor diesem Hintergrund zurück – und doch ist auch sie folgenreich.

Mit schnellen, teils wohl einsamen Entscheidungen, die im Laufe des Wochenendes vom 26. und 27. Februar unter hohem Druck Deutschlands Verbündeter im Kanzleramt fielen, hat Bundeskanzler Olaf Scholz eine dramatische Wende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vollzogen. Würde sie ideenreich, kompetent und vollumfänglich umgesetzt, wäre das ein gewaltiger Schritt in eine sicherere, bessere Zukunft für Deutschland und den europäischen Kontinent.

Da ist die Revision der wohlfeilen deutschen „Wir liefern nicht in Krisengebiete“-Rüstungsexportpolitik. Dieser moralisch auf schwankenden Füßen stehende Grundsatz, der zwischen Angreifer und Verteidiger nicht unterscheidet, lag schon immer überkreuz mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen, der jedem souveränen Staat das Recht zur Selbstverteidigung zubilligt; dieses zu unterstützen, wenn der UN-Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist (dafür sorgt aktuell das russische Veto), stärkt die auf Recht, nicht auf Macht basierende internationale Ordnung, die schützen zu wollen die Gegner von Waffenlieferungen stets behaupteten, ohne gute Argumente.

Dieser Schritt, gegen den es bei den Grünen und der SPD sicher noch länger Widerstand geben wird, war überfällig. Er ermöglicht es erst, dass Deutschland es ernst meinen kann mit einer Werte-geleiteten Außenpolitik – indem sie diese Unkultur der „Zurückhaltung“ (lies: des Heraushaltens) beendet. Zukünftig wird die bundesrepublikanische Außenpolitik in viel mehr Fällen als bisher Farbe bekennen müssen: Auf wessen Seite steht man in welchem Konflikt? Dass es dazu, nachdem man 2014 den Kurden im Nordirak im Kampf gegen die genozidale Terrormiliz „Islamischer Staat“ mit Waffenlieferungen half, noch einmal acht Jahre dauerte, zeigt, wie verkrustet das deutsche Denken war.

Wichtiger aber noch ist der Paukenschlag in Sachen massiver Erhöhung der Verteidigungsausgaben – über die Scholz’sche Idee eines im Grundgesetz verankerten „Sondervermögen Bundeswehr“ von 100 Milliarden Euro, um der ebendort stehenden Schuldenbremse zu entsprechen. Diese mit Finanzminister Christian Lindner vorbesprochene Idee, von der aber nur sehr wenige vorher wussten, war die größte Überraschung der „Zeitenwende“-Rede – die Verblüffung des Parlaments war mit Händen zu greifen. Während das „Sondervermögen“ vor allem langfristige Rüstungsprojekte absichern soll, wird parallel der reguläre Verteidigungsetat steigen und das den Nato-Verbündeten versprochene Ausgabenziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreicht werden.

Das bedeutet übrigens erst einmal keine deutsche „Aufrüstung“ – vielmehr geht es um Ausrüstung. Denn die traurige Wahrheit ist, dass sich Deutschland seit Jahren und Jahrzehnten für viele Milliarden Euro Streitkräfte geleistet hat, die in vielen Fällen nicht einsatzfähig und damit als Instrument des Selbstschutzes, geschweige denn der Außenpolitik untauglich waren. Die Einheiten und militärische Fähigkeiten, die man dem Bündnis zusagte und die im Nato-Rahmen zum Einsatz kommen, ließen sich nur stellen, indem man sich quer durch die Bundeswehr von anderen Truppenteilen die mangelnden Schutzwesten, Nachtsichtgeräte, Fahrzeuge oder Munition zusammenlieh. Deutschland fehle in seiner Außenpolitik eben „die militärische Dimension“, hieß es noch vor ein paar Jahren eher achselzuckend aus dem Kanzleramt Angela Merkels.

Wenn diese nun von der Ampel-Regierung ernsthaft entwickelt wird, ist das in mindestens dreierlei Hinsicht eine historische Wende. Wenn es den Verantwortlichen, allen voran Verteidigungsministerin Christine Lambrecht, gelingt, das völlig untaugliche Beschaffungswesen der Bundeswehr so zu reformieren, dass Flugzeuge fliegen, Schiffe in See stechen und Soldatinnen und Soldaten „optimal ausgerüstet“ sind „für ihre gefährlichen Aufgaben“, wie Scholz es auf der Münchner Sicherheitskonferenz formulierte, wäre Deutschland sicherer. Zum Zeitpunkt von Putins Angriffskrieg hat unser Land dagegen ein Heer, das nach Worten seines eigenen Befehlshabers „blank dasteht“.

Auch für eine sicherere Zukunft Europas ist es unerlässlich, dass Deutschland einen militärischen Beitrag leistet, der seiner politischen und wirtschaftlichen Größe entspricht. Ohne eine militärische Stärkung ist der Kontinent Putins aggressivem revisionistischem Russland nicht gewachsen. Das geht nicht ohne deutsche Mehrausgaben – und wird nur funktionieren, wenn sich die Europäer ihre Streitkräfte multilateraler aufstellen, weitere „Inseln“ der strukturierten Zusammenarbeit bilden und perspektivisch eine gesamteuropäische Rüstungsindustrie schaffen. Scholz’ Heraus­streichen gemeinsamer, gerade auch deutsch-französischer Projekte zur Entwicklung eines europäischen Panzer- oder Kampfflugzeugtyps sind der richtige Weg.

Und schließlich haben Kanzler Scholz und seine Regierung sich um das transatlantische Verhältnis verdient gemacht. Dem Bild der „egoistischen Deutschen“, gegen das längst nicht nur die Trump-Republikaner in den Vereinigten Staaten leider nicht unberechtigt seit Jahren Stimmung machen und mit einem Ende der Nato drohen, ist die Grundlage entzogen. US-Präsident Joe Biden hat damit bessere Karten, in der amerikanischen Bevölkerung gegen isolationistische Strömungen zu argumentieren, die gerade unter den jüngeren Amerikanerinnen und Amerikanern erschreckend stark sind. Breite Mehrheiten für die Unterstützung der Ukraine fanden sich zumindest bis vor Kriegsbeginn nur unter den über 60-Jährigen.

In einer lange absehbaren „neuen Zeit“, in der ein für Deutschland und Europa gefährliches Putin-Regime gestoppt und möglichst eingedämmt werden muss, ist das transatlantische Verhältnis unabdingbarer denn je. Substanzielle Verbesserungen bei der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr werden mindestens Zeit brauchen; die nun endlich auch nach außen wehrhafte Demokratie entsteht nicht über Nacht. Dennoch hat die Wende gezeigt, dass es auch schnell gehen kann, wenn der politische Wille vorhanden ist.

Erinnert sich noch jemand an Nord Stream 2? In diesen Tagen, wo sich, wie die US-Historikerin Anne Applebaum schrieb, die Geschichte beschleunigt, ist überdeutlich geworden, dass sich die nach dem Fall der Berliner Mauer gepflegte deutsche außenpolitische Linie, vor geopolitischen Realitäten die Augen zu verschließen und prächtige Geschäfte auch mit autokratischen Staaten wie Russland und China zu machen und darüber unter anderen die eigene Energiesicherheit zu untergraben, eine ebenso selbstbetrügerische wie gefährliche Linie war.

Letztlich haben Olaf Scholz und seine Regierung mit der dramatischen Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik gezeigt, dass sie Freiheit über Wohlstand stellen. Umfragen zeigen, dass sie dabei rund zwei Drittel der Deutschen hinter sich haben. Der neue Kurs muss noch stärker verankert, in die Gesellschaft getragen und argumentativ untermauert werden. Aber diese öffentliche Unterstützung ist ein Pfund. Ein mutiger Bundeskanzler kann jetzt damit wuchern.

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