Nicht nach Osten, nach Westen sollte ich mich wenden

Deutsche Geschichte: In Berlin am Tag nach dem Mauerfall

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PICTURE ALLIANCE/WOLFGANG KUMM
Alle die von Freiheit träumen, sollen's Feiern nicht versäumen: Am Tag nach dem Mauerfall in Berlin.
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Alle die von Freiheit träumen, sollen's Feiern nicht versäumen: Am Tag nach dem Mauerfall in Berlin.

Nicht nach Osten, nach Westen sollte ich mich wenden

Deutsche Geschichte: In Berlin am Tag nach dem Mauerfall

Am 9. November 1989 leistete ich mir einen exquisiten Fernsehgenuss. In meinem Kölner Büro ließ ich mir das DDR-Fernsehen aufschalten. Ich rechnete mit interessanten Neuigkeiten. Die neue SED-Führung war dabei, ihr modernes Verständnis von Politik zu demonstrieren. Nach den Sitzungen der Parteigremien sollten die Journalisten umgehend über die Beschlüsse informiert werden. Als Interpret wurde mit Günter Schabowski, der ehemalige Chefredakteur des Parteiorgans Neues Deutschland, in das internationale Pressezentrum an der Mohrenstraße entsandt. Schabowski, seit geraumer Zeit Chef des mächtigen SED-Bezirks Berlin, gab sich betont selbstgewiss, zeigte sich aber im entscheidenden Augenblick seiner Aufgabe nicht gewachsen – was unerwartet zur Öffnung der Mauer führen und die Beziehungen zwischen Ost und West zum Besseren verändern sollte.

In der ersten Dreiviertelstunde seiner Pressekonferenz war von Schabowski nichts Belangvolles zu hören. Das änderte sich, als ein Korrespondent nach dem neuen Reisegesetz fragte. Schabowski geriet ins Schwimmen. Er gab sich weiter den Anschein von Souveränität, aber allen war klar, dass er nicht im Stoff war, bis er schließlich in seinem Zettelwirrwarr völlig unterging. Von dem, was Schabowski vor sich hin nuschelte, verstand ich nur, dass Anträge auf Privatreisen künftig kurzfristig genehmigt würden. An den Gesichtern der Journalisten sah ich, dass sie auch nicht verstanden hatten, was ihnen Schabowski verkündigte. Einzig auf die Frage, wann die Regelung in Kraft treten sollte, gab es eine klare Antwort. „Sofort! Unverzüglich.“ Die Tagesschau fasste Schabowskis Pressekonferenz in dem zutreffenden Satz zusammen: „Die DDR öffnet ihre Grenzen“.

Am späteren Abend eröffnete Hanns Joachim Friedrichs die ARD-Tagesthemen mit Sätzen, die das Ende der DDR einleiteten. „Die SED hat dem Druck nachgegeben. Der Reiseverkehr in Richtung Westen ist frei. Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

Am nächsten Morgen flog ich nach Berlin, um mich in Ost-Berlin umzuschauen, wie die Bevölkerung auf die sensationellen Nachrichten ihrer politischen Führung reagierte. Ich sollte nicht enttäuscht werden. An meinem früheren Stamm-Grenzübergang in der Heinrich-Heine-Straße kamen mir Zehntausende glückselige Menschen entgegen. Sie riefen mir zu, ich sei auf dem falschen Trip: Nicht nach Osten, sondern nach Westen sollte ich mich wenden. Die Passkontrolleure hatten resigniert ihre Arbeit eingestellt.

Im dichten Gedränge entdecke ich eine mir vertraute Gestalt. Es war Lew Kopelew, auch er war unterwegs in Richtung Ost. „Wohin des Weges?“ fragte ich ihn. „Zum Dorotheenstädtischen Friedhof, zum Grab von Bertolt Brecht und anschließend zu Gerhard und Christa Wolf“, rief er mir zu.

Als er am Vorabend von der Maueröffnung gehört hatte, hielt es den alten Knaben nicht mehr in Köln. Mit dem ersten Flugzeug machte er sich auf nach Berlin. In der Hast des Aufbruchs hatte er seinen Pass vergessen. An diesem Tag bescherte ihm das Malheur jedoch keine Probleme. Er kam ohne Kontrolle in die DDR hinein und auch ohne Kontrolle aus der DDR heraus. Mein Kamerateam und ich wandten uns nach Westen Richtung Potsdamer Platz, wo ein Segment aus der Mauer herausgehoben werden sollte, um einen zusätzlichen Grenzübergang zu schaffen. Von einer Erhebung beobachteten wir die Arbeiten. Wir sahen Bilder, wie sie in einem Hollywoodfilm nicht dramatischer inszeniert werden konnten. Die Mauer war von westlicher Seite von Hunderten Schaulustiger geentert worden.

Auf der Ostseite des antifaschistischen Schutzwalls stellten sich Einheiten der DDR-Grenztruppen in Dreierreihen auf, um den zu erwartenden Ansturm aus dem Westen aufzufangen und zu kanalisieren. Passkontrolleure mit Bauchläden bauten sich auf, um die Besucher aus dem Westen ordnungsgemäß zu erfassen. Als das Betonsegment aus der Mauer gehoben wurde, gab es kein Halten mehr. Tausende Menschen rauschten wie entfesselt durch die Mauerlücke. Sie überrollten wie eine Springflut die Grenztruppen. Die Passkontrolleure blieben mit ihren Bauchläden ohne Kundschaft.


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