Nur über seine Leiche?

Ein irritierter Alexsandr Lukaschenka wehrt sich gegen die Proteste der belarusischen Bevölkerung

22
08
ULF MAUDER/DPA
22
08
ULF MAUDER/DPA

Nur über seine Leiche?

Ein irritierter Alexsandr Lukaschenka wehrt sich gegen die Proteste der belarusischen Bevölkerung

Die Proteste in Belarus dauern an, und noch immer ist ihr Ausgang offen. In der zweiten Woche nach den Präsidentschaftswahlen, die Amtsinhaber Aleksandr Lukaschenka zu seinen Gunsten fälschte, haben sich die Proteste zu einer Massenmobilisierung verdichtet. An der zentralen Kundgebung in Minsk am vergangenen Sonntag nahmen über 100 000 Menschen teil. Am selben Tag fand eine von Lukaschenka organisierte Demonstration statt: Die Zahl der Teilnehmenden fiel bescheiden aus.

Es blieb nicht bei diesem einen Versuch, Unterstützung für Lukaschenka zu inszenieren. So flog er ein paar Tage später per Helikopter zu einem staatlich kontrollierten Großbetrieb, um medienwirksam vor der angeblich regimetreuen Gefolgschaft aufzutreten. Anstelle des erwarteten Applauses rief die Belegschaft aber: „Geh weg!“, und für einen Moment wirkte Lukaschenka sichtbar unsicher. Er appellierte an den Wunsch der Bevölkerung nach Stabilität und steigerte sich in die Beteuerung, er werde die politische Bühne, wenn überhaupt, nur tot verlassen. Andernorts waren zuvor schon die Belegschaften einer Reihe von Großbetrieben und Staatsmedien dem Aufruf der Opposition zum Generalstreik gefolgt.

Das Ausmaß der Selbstorganisation bei den anhaltenden friedlichen Protesten ist bemerkenswert. Ohne auf eine gefestigte Struktur zivilgesellschaftlicher oder politischer Opposition zurückgreifen zu können, sind die Proteste von einem hohen Maß an Disziplin, Strategie und Kreativität geprägt. In den sozialen Medien kursieren Bilder von Demonstrierenden, die sogar ihren eigenen Müll entsorgen. Die Proteste sind im ganzen Land verankert, nicht nur in der Hauptstadt Minsk. Es gibt erste Anzeichen für eine Bereitschaft einzelner Kommunalverwaltungen, Kompromisse mit den Demonstrierenden auszuhandeln.

Und trotz dieses umfassenden gesellschaftlichen Aufbruchs ist der Erfolg der auf Neuwahlen fokussierten Proteste immer noch nicht garantiert. Lukaschenka spielt auf Zeit und scheint an Spielraum, wenn auch nicht an Legitimität zu gewinnen. Jede einzelne seiner Antworten auf die Proteste – von seinen Reden, den Versuchen, das Internet zu blockieren, bis hin zu einer Mischung aus Druck und Anreizen für die Eliten des Sicherheitsapparats und gewaltsamen Repressionen – hat die Opposition gestärkt. Doch jetzt stellt sich zunehmend die Frage, wie lange sich die Proteste aufrechterhalten lassen. Die Menschen sind angewiesen auf ihre Arbeitsplätze und Gehälter. Auch hat eine zweite Welle der gewaltsamen Repressionen durch Spezialeinheiten bereits begonnen. Der Sicherheitsapparat mag die vergangene Woche lediglich dafür genutzt haben, sich neu zu formieren.

Lukaschenka bemüht sich, die Ereignisse als einen geopolitischen Konflikt zwischen der EU und Nato im Westen und Russland im Osten zu stilisieren. Er beschwört den Vergleich mit den „Farbrevolutionen“, insbesondere des Euromaidans in der Ukraine, und knüpft daran seine Bitte um die Unterstützung des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Dieses Narrativ hat den Kreml veranlasst, mehrfach vor einer Einmischung von außen zu warnen, verbunden mit einer diffusen Drohung, möglicherweise eingreifen zu „müssen“.

Es geht bei den Protesten jedoch gerade nicht um die außenpolitische Orientierung von Belarus. Über den Protestierenden wehen keine EU-Fahnen, sondern die weiß-roten Farben, die an die kurzlebige Volksrepublik 1918-1920 und die frühe post-sowjetische Zeit anknüpfen. Die politischen Schlüsselfiguren der Opposition – die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja, die sich nach Drohungen nach Litauen absetzen musste, und ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa – betonen ganz bewusst immer wieder, dass es sich um eine nationale Krise handele, die auf nationaler Ebene bewältigt werden müsse. Sie selbst haben die EU um Zurückhaltung gebeten. Die Staats- und Regierungschefs der EU standen bei ihrem Videogipfel am Mittwoch vor der schwierigen Aufgabe, eine klare Ansage an Lukaschenka und die belarusische Bevölkerung zu formulieren, ohne dem Kreml einen Vorwand für eine direkte Intervention zu geben. Am Ende einigte man sich darauf, dass die EU die Wahlen offiziell nicht anerkennt, und verwies auf die Notwendigkeit eines politischen Dialogs, bei dem die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) mitwirken könne. Sowohl Belarus als auch Russland sind Mitgliedsstaaten der OSZE.

Belarus ist wirtschaftlich und politisch eng mit Russland verbunden. Seit 1999 besteht der sogenannte Unionsstaat – zumindest auf dem Papier –, und das belarusische Wirtschaftsmodell beruht fast vollständig auf russischen Subventionen, vor allem in Form von günstigen Öllieferungen. Belarus ist darüber hinaus Mitglied in der von Russland dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion. Über diese strukturellen und institutionellen Verbindungen hinaus, ist auch die belarusische Gesellschaft eng mit Russland verbunden. Eine Intervention durch Russland würde diese für den Kreml günstige Ausrichtung der Bevölkerung destabilisieren. Dies ist auch dem Kreml bewusst, der zwar seine Rhetorik hochgefahren hat und in engem Kontakt mit Lukaschenka steht, sich aber bisher alle Handlungsoptionen offen zu lassen scheint.

Die Dringlichkeit des Wunsches nach einem politischen Neuanfang in Belarus ist ungebrochen. Mit einer neuen Phase der Organisation der Opposition in der Form eines Koordinationsrats bietet sich jedoch für Lukaschenka und Putin ein neuer Anknüpfungspunkt für juristischen, polizeilichen und außenpolitischen Druck.

Weitere Artikel dieser Ausgabe