Ostverkleinerung

Wie Zentraleuropa auf die russische Aggression gegen die Ukraine reagiert

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PICTURE ALLIANCE/NURPHOTO/BEATA ZAWRZEL
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Ostverkleinerung

Wie Zentraleuropa auf die russische Aggression gegen die Ukraine reagiert

Nach 1990 schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Nach dem Ende der Sowjetunion und des Warschauer Pakts konnten die bis dahin halbsouveränen Staaten Mittelosteuropas ihre sicherheitspolitischen Interessen selbst bestimmen. Ihre Wahl war klar: Sie wollten sich Nato und EU anschließen und die Breschnew-Doktrin zu den Akten legen, die das Gebiet als Moskauer Einflusszone definiert und an den Kreml gekettet hatte. Und eine Demokratisierung im Inneren konnte nur gelingen, wenn die früheren Satellitenstaaten keinen russischen Imperialismus mehr zu fürchten hatten, der auch vor 1917 und 1945 virulent war, nicht selten im konflikthaften Bündnis mit Preußen-Deutschland.

Heute ist die Lage komplizierter. Die am meisten von Russland bedrohten baltischen Länder (Estland, Lettland und Litauen) verstehen den Ernst der Situation; wie Großbritannien und die USA bekunden sie, defensive Waffen (wie die Javelin-Systeme) an die Ukraine liefern zu wollen. Die Sicherheitspolitik der anderen Länder ist aber nicht mehr so eindeutig, wie man am Beispiel der Visegrád-Staaten zeigen kann.

Ungarn ist das Paradebeispiel eines Trojanischen Pferdes (Mitchell Orenstein/Daniel Kelemen) des Kremls. Der jüngste Besuch des ungarischen Premierministers Viktor Orbán demonstrierte das – es war nicht seine erste Visite. Ungarn hatte bereits 2014 die EU-Sanktionen gegen Russland kritisiert und die Konsenssuche der EU-Länder gegenüber Putins Russland hintertrieben. Es ging dabei stets um billiges Gas und billige Kredite, aber auch um alte Rechnungen mit der Ukraine. Beispielsweise hatte das ungarische Konsulat 2018 im westukrainischen Berehove ungarische Pässe an ukrainische Bürger ausgestellt, eine eklatante Verletzung der ukrainischen Gesetze und eine prorussische Provokation, da die Ukraine Doppel­staatsbürger­schaften nicht anerkennt. Viktor Orbán suchte in Moskau Schutz vor der Kritik aus Washington und Brüssel am Demokratieverfall in Ungarn, in der Ära Trump näherte sich Ungarn dem Autokraten im Weißen Haus an. Ungeachtet der Radikalisierung Putins blockiert Ungarn heute die Kooperation zwischen der Nato und der Ukraine; dafür gewährt Moskau Sonderpreise für Gas, billige Kredite und russische Technologie für den Ausbau des Atomkraftwerks in Paks. Dass Ungarn momentan Gas aus Russland für etwa 20 Prozent des Marktpreises erhält, ist kurz vor den entscheidenden Parlamentswahlen im April 2022 allerbeste Wahlkampfmunition.

Orbán bedient Putins unverkennbare Absicht, die Europäische Union zu spalten; er trägt damit zur Schwächung der europäischen Souveränität bei. Auch in anderen Visegrád-Staaten sind Anzeichen dafür erkennbar. Tschechiens politische Elite ist in Bezug auf Russland gespalten. Dass Trojanische Pferde auch einzelne innenpolitische Akteure sein können, zeigt sich schon am fatalen Beispiel von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Bundesrepublik. Ähnlich ist der jetzige Präsident der tschechischen Republik Miloš Zeman ein überzeugter Befürworter Putins (und übrigens auch ein großer Fan von Donald Trump). Unter anderem haben Zeman sein gebrochenes Verhältnis zur tschechischen Verfassung und die Beteiligung an kleptokratischen Netzwerken seines Zöglings Andrej Babiš (bis 2021 Premierminister) in die Nähe Moskaus gebracht. Vor kurzem etwa ist bekannt geworden, dass wichtige Ermittlungsunterlagen über eine Explosion im Munitionsdepot 2014 in Vrbětice aus den Panzerschänken des Präsidialamtes verschwunden sind, vermutlich weil Zeman diese schreddern ließ. Hinter der Explosion vermuten tschechische Ermittler den russischen Militärgeheimdienst GRU, da die Munition für die Ukraine bestimmt war. Die Staatsanwaltschaft, die sich nach dem Regierungswechsel in Prag von den Seilschaften Zemans und Babiš’ gelöst hat, ermittelt im Zusammenhang mit dem mysteriösen Verschwinden dieser Beweisdokumente.

Eine ähnliche Spaltung ist auch in anderen Ländern der Region zu beobachten. Ende Januar 2022 drohte Kroatiens Präsident (und ehemaliger Premierminister des Landes 2011-2016) Zoran Milanović den Rückzug seines Landes aus der Nato an, sollte es zwischen Russland und der Ukraine zur Konflikteskalation kommen, die er nicht Putin, sondern der Nato, den USA und Großbritannien anlastete. Die Ukraine, laut Milanović „eines der korruptesten Länder der Welt“, dürfe nicht in die Nato aufgenommen werden (wobei dies derzeit nicht zur Debatte steht), eine Konfrontation mit Russland müsse angesichts der jetzigen Preisentwicklung von Erdgas um jeden Preis vermieden werden. Kurz danach wies Kroatiens Außenminister Gordan Grlić Radman diese Äußerungen zurück und erklärte, der Präsident spreche nur für sich selbst und nicht für das Land.

In der Slowakei, wo die russische Propaganda über soziale Medien besonders stark und wirksam ist, gehört Robert Fico mit seiner SMER-Partei zu den wichtigsten Putin-Freunden. Der Ex-Premier war über seine Verwicklungen in Korruptionsnetzwerken und mafiösen Strukturen gestürzt; als einer der Oppositionsführer wirbt er nun gemeinsam mit rechtsradikalen Parteien für vorgezogene Neuwahlen und möchte im Erfolgsfall die Nato-Truppen aus dem Gebiet der Slowakei verbannen. So nutzten Rechtspopulisten die Gunst der Stunde in der Ukraine-Krise, und man sieht, dass Putin nicht nur den Beitritt neuer Länder zur Nato blockieren, sondern auch langjährige Mitgliedstaaten aus dem Bündnis herauslösen will. Dagegen positioniert sich die liberale Präsidentin Zuzana Čaputová, die Russland für die Eskalation des Konfliktes mit der Ukraine verantwortlich macht und auf der Nato-Präsenz in der Slowakei beharrt.

Einen interessanten Sonderfall stellt Polen dar. Das Land gehörte 2014 zu den diplomatisch aktivsten Ländern im Russland-Ukraine-Krieg; es unterstützte die Ukraine mit Krediten, der polnische Außenminister reiste mit seinen deutschen und französischen Kollegen des „Weimarer Dreiecks“ nach Kiew, die außenpolitische Koordinierung zwischen Berlin und Warschau funktionierte noch gut. Es ging darum, der Ukraine die Chance der nationalen Selbstbestimmung und des Demokratieaufbaus zu geben, gegen Kleptokraten wie Viktor Janukowytsch, die den Einfluss Russlands in der Ukraine sichern sollten. Die polnische Regierung fährt bekanntlich einen harten Anti-EU-Kurs, der nun auch antiukrainische Töne annimmt. Der polnische Nationalismus der Zwischenkriegszeit, dessen sich die PiS im Konflikt mit der EU bedient, war nämlich nicht nur antideutsch und antirussisch, sondern auch antiukrainisch und kann in der aktuellen Krise umkippen. Da eine offen prorussische Positionierung in Polen kaum möglich ist, weil die Sicherheitslage in Polen ähnlich prekär ist wie in den baltischen Länder, bleibt es bei der russlandkritischen Rhetorik, doch zugleich betreibt die PiS eine antiukrainische Außenpolitik.

Zwei Beobachtungen können das verdeutlichen. Zum einen hat die PiS-Regierung sehr lange abgewartet, bevor sie den Ernst der Lage in der Öffentlichkeit angesprochen hat. Und das, obwohl Polen von dem Konflikt direkt betroffen wäre, etwa durch eine neue Flüchtlingswelle aus der Ukraine. Entgegen der bisherigen Praxis gab es auch keine Konsultationen zwischen den Verteidigungsministerien in Warschau und Kiew, wie der ukrainische Verteidigungsminister in einem Interview andeutete. Erst als der Druck der öffentlichen Meinung, der polnischen Opposition und der Nato-Partner wuchs, entschloss sich die PiS-Regierung, Munition an die Ukraine zu liefern. Zum anderen reiste der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki im Januar 2022 nach Madrid — mitten in dem sich anbahnenden Konflikt –, um sich dort mit den überwiegend prorussischen Rechtspopulisten Europas zu treffen. Dazu gehört die Französin Marine Le Pen, deren frühere Wahlkämpfe durch russische Banken finanziert wurden, und Santiago Abascal von der spanischen Vox, unter anderem für Rehabilitationsversuche der Franco-Diktatur bekannt. Ein regierungskritisches Informationsportal in Polen rechnet Morawiecki schon der „Putintern“ zu, wie man eine neue Internationale nennt, welche die Ukraine und Belarus der „russischen Welt“ zuschlägt und unter dem Banner einer neo-slawophilen Ideologie die Auflösung der Sowjetunion rückgängig machen will.

Getrennte Signale gingen von jüngsten diplomatischen Initiativen aus Zentraleuropa aus: Polens Außenminister Zbigniew Rau initiierte als Vorsitzender der in Wien ansässigen OSZE einen „Erneuerten Europäischen Sicherheitsdialog“, der auf Grund des Einstimmigkeits­prinzips der Organisation Russland zwingen soll, Farbe zu bekennen. Warschau hat auch das „Weimarer Dreieck“ mit Berlin und Paris für entsprechende Vorstöße wiederbelebt. Zeitgleich wurde auch das „Austerlitz-Format“ regeneriert, in dem Wien, Prag und Bratislava die Sicherheit der Ukraine zu ihrer eigenen Sache erklärten und die Lieferung tschechischer Artilleriegeschosse ankündigten. Die Ukraine-Krise wirkt wie ein Katalysator: ob die Visegrád-Staaten weiterhin auf dem westlichen Weg bleiben oder in eine instabile Zwischenlage zurückfallen.

Ireneusz Paweł Karolewski ist Professor für Politische Theorie und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Initiator des dortigen Panel on Planetary Thinking. Jüngst erschien ihr Buch „Die Visegrád-Connection. Eine Herausforderung für Europa“ im Verlag Klaus Wagenbach Berlin, 176 Seiten, 20 Euro.


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