Quadratur des Wahlkreises

Die kompensatorische Lage des heutigen Parlamentarismus – zwischen Bewahrung und Entfremdung

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Reform für lange Bänke?
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Quadratur des Wahlkreises

Die kompensatorische Lage des heutigen Parlamentarismus – zwischen Bewahrung und Entfremdung

Bei der Verabschiedung der jüngsten, minimal invasiven Wahlrechtsreform vor einer Woche fielen zwei der drei zentralen Trends der Entwicklung von CDU und SPD ins Auge, auf die ich schon im Jahr 2002 aufmerksam gemacht hatte und welche das Verhalten mit Blick auf die Entwicklungen der Parteien erklären: die miteinander zusammenhängenden Phänomene der Etatisierung und Professionalisierung der Organisationen, die neben der Medialisierung zu nennen sind.

Das klingt erst einmal kompliziert, lässt sich aber gut beschreiben.

Unter Etatisierung zu verstehen ist ein zunehmend auf den Staat und seine Institutionen gerichtetes Handeln von Parteien im Hinblick auf Aktionsfelder und das für die Existenz notwendige Ressourcenaufkommen. Dieser Prozess der Etatisierung von Parteien ist zwar keinesfalls neu – schon in den 1980er-Jahren war die Rede von „quasi halbstaatlichen Dienstleistungsorganisationen“ –, hat sich aber trotz vielfältiger, teilweise polemischer Kritik („der Staat als Beute“) daran bis heute fortgesetzt. Wie jede Organisation sind Parteien an ihrer Überlebensfähigkeit interessiert und versuchen, die Bedingungen entsprechend auszugestalten. Der Vorteil für Parteien im Gegensatz zu anderen Organisationen liegt darin begründet, dass sie durch ihre unmittelbare Mitwirkung in Parlamenten und Regierungen ihr Umfeld selbst ausgestalten können, entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt.

Ihre zentrale Rolle im politischen Willensbildungsprozess und für die Herstellung demokratischer Legitimation rechtfertigt eine zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben entsprechende materielle Ausstattung. Jedoch entbrennt immer wieder Streit darüber, wie umfangreich diese aussehen soll. Da das Bundesverfassungsgericht der direkten staatlichen Parteienfinanzierung recht enge Grenzen gesetzt hat, haben die Parteien schon seit längerer Zeit ihre Ressourcen in Parlamenten erheblich ausgedehnt, beispielsweise indem sie die Zahl der Mitarbeiter oder die finanziellen Mittel für die Arbeit der Fraktionen spürbar erhöhten. Vornehmlich SPD und CDU kompensieren damit partiell ihre sukzessive zurückgehende gesellschaftliche Anbindung, die in geringeren Mitgliederzahlen und – insbesondere bei der SPD – deutlich rückläufigen Wähleranteilen ihren markantesten Ausdruck findet. Damit sinken gleichzeitig die Einnahmen der Parteien aus der staatlichen Parteienfinanzierung, die sich ja zu wesentlichen Teilen an Wählerstimmen und Mitgliedsbeiträgen bemessen.

Angesichts der für beide Parteien sehr ungünstigen demographischen Struktur der Mitgliedschaft (das Durchschnittsalter der Mitglieder beträgt mehr als 60 Jahre) und ihrer zuletzt nachlassenden Bindungskraft unter jüngeren Wählern suchen SPD und CDU nach Auswegen, um ihre gesellschaftliche Anbindung im Zuge einer sich fragmentierenden Gesellschaft als Integrationsparteien sicherzustellen. Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft droht gerade denjenigen Parteien ein Teil an Responsivität, also Berücksichtigung von Werten, Interessen und Meinungen der eigenen Mitglied- und Wählerschaft, verloren zu gehen, die auf Integration und Ausgleich der Gesamtgesellschaft setzen, weil die Differenzen zwischen den Gesellschaftssegmenten schwerer überbrückbar werden. Wie nun versuchten die solchermaßen geschwächten Parteien dem Wandel erfolgreich zu begegnen?

Als ein Weg bot sich die Professionalisierung ihrer Strukturen und ihrer Medienkommunikation an. Im Zentrum des Selbstverständnisses der Parteien als professionalisierte Dienstleister stehen logischerweise diejenigen, die Politik als Beruf betreiben, also vornehmlich die Abgeordneten und deren Mitarbeiter. Ihnen kommt angesichts der für SPD und Union negativen Mitgliederentwicklungen eine herausgehobene Bedeutung zu, um die ausgedünnte oder im Osten Deutschlands niemals breit gefächerte Parteiorganisation vor Ort am Leben zu halten. Sie sorgen als Landtags- oder Bundestagsabgeordnete zusammen mit den hauptamtlichen Kommunalpolitikern für einen Teil der Sichtbarkeit der Partei in den Städten und Gemeinden. Nicht zuletzt sollen sie die außer- und innerparteilichen Kommunikationskanäle funktionsfähig erhalten, damit sich keine Abkoppelung der Parteiführungen gegenüber Wählern und Mitgliedern einstellt und Politik möglichst responsiv bleibt – umgangssprachlich: das Ohr nah am Volk hat.

Letzteres ist zwar nicht zuletzt angesichts der Akademisierung des Abgeordnetenberufs und der genannten gesellschaftlichen Entwicklungen schwieriger und brüchiger geworden, was in Protest- und Nichtwahl derjenigen mündet, die sich nicht mehr angemessen vertreten fühlen. Dennoch spielt im Selbstverständnis der Unionsparteien wie der Sozialdemokraten aufgrund der jahrzehntelangen Praxis das Image der direkt gewählten Abgeordneten als Interessenvertreter seines bzw. ihres Wahlkreises nach wie vor eine große Rolle. Nicht zuletzt auch aus diesem Interesse heraus fiel es den Abgeordneten beider Regierungsfraktionen offensichtlich schwer, eine Reduktion der Wahlkreismandate zu akzeptieren, zumal die Unsicherheit unter ihnen weit verbreitet ist, eine Verkleinerung des Parlaments im Sinne eines allgemeinen Wohls als unbedingt notwendig zu betrachten. Eine deutliche Reduktion der Wahlkreismandate hätte den drei Regierungsparteien keine erkennbaren Vorteile erbracht. Dass Berufspolitiker wie andere Berufsgruppen auch zu Verselbständigungstendenzen neigen und an ihrem Berufsweg festhalten möchten, verwundert nicht, hat aber verdeutlicht, dass Etatisierung und Professionalisierung die Bande der Parteien zu ihren Wählern gelockert haben.

Wenn Meinungsumfragen in vielen Fällen korrigierend einwirken können, so entfiel diese Art plebiszitäre Komponente dieses Mal als Responsivitätsmechanismus. Für Interessenvertreter in eigener Sache ist es ein schwieriges Unterfangen, vom Eigeninteresse zu abstrahieren. Das gilt nicht nur, aber eben auch für politische Parteien. Ein guter Vorschlag ist gemacht: Eine Kommission mit unabhängigen Vertretern sollte Vorschläge zur Wettbewerbsordnung, sprich zum Wahlrecht vorlegen. Eine Möglichkeit für die Verrechnung der Zweitstimmen wäre es, Bundeslisten einzuführen. Das Problem der Überhangmandate wäre damit nahezu beseitigt.

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