Reden nach Rugby-Regeln

Brexit und kein Ende – ist die Europäische Union zu nachgiebig mit dem Hasardeur Boris Johnson?

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PICTURE ALLIANCE/EMPICS
In Windes-Weben: Boris Johnson
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In Windes-Weben: Boris Johnson

Reden nach Rugby-Regeln

Brexit und kein Ende – ist die Europäische Union zu nachgiebig mit dem Hasardeur Boris Johnson?

Es ist also immer noch nicht zu Ende. Der Brexit, dieser quälende Loslösungsprozess Großbritanniens vom politischen Europa, zieht sich in eine weitere Verlängerung. Eigentlich sollte am vergangenen Donnerstag Schluss sein: Wenn bis dahin kein Abkommen stehe, so hatte Boris Johnson gedroht, sehe er nicht, wie es noch zu einem Freihandelsvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union kommen könne. Aber die Frist verstrich wie schon einige vor ihr ohne erkennbare Folgen.

Jetzt wird also weiterverhandelt. Der EU-Gipfel hat jedenfalls den Willen dazu bekundet, von Johnson wird nichts anderes erwartet (er wollte sich erst nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe äußern). Keiner will an einem offenen Bruch schuld sein, und allmählich gewinnt auch die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen eines No-Deal-Brexit die Oberhand.

Wobei die Frage ist, wo diese Angst größer ist. Fast flehentlich forderte der EU-Gipfel die Briten auf, doch nun die nötigen Schritte zu gehen, um einen Kompromiss zu ermöglichen, zu dem man natürlich auch selbst bereit sei, natürlich „nicht um jeden Preis“, aber man wisse schon, dass man auch Zugeständnisse machen müsse. Und die Briten? Zeigten sich „enttäuscht“ (so ihr Chefunterhändler David Frost), dass bei diesem Gipfel nicht mehr herausgekommen war.

Es ist eine verkehrte Welt. Tatsächlich ist Großbritannien viel mehr auf den möglichst ungehinderten Zugang zum europäischen Markt angewiesen als umgekehrt die EU auf den britischen Markt. Natürlich würde es auf beiden Seiten bei einem No-Deal-Brexit Leidtragende geben, aber die würden sich vor allem auf der Insel finden. (Ohnehin würde ein Brexit ohne Abkommen ja nicht das Ende aller Geschäfte bedeuten: Die EU unterhält mit vielen Ländern lebhafte Handelsbeziehungen, ohne dass sie mit ihnen Freihandelsverträge abgeschlossen hätte.)

Die Kräfte sind also eigentlich ziemlich eindeutig verteilt. Und doch sieht die EU inzwischen wie ein Bittsteller aus, während Johnson fordert, droht, Fristen setzt und Bedingungen stellt. Es ist eine merkwürdige Verhandlungslage, in die sich die Europäer gebracht haben. Inzwischen müssen sie sich ernsthaft sorgen, dass der Binnenmarkt, der Kern des europäischen Projekts, Schaden leidet.

Denn das ist es, worauf es die Brexiteers von vornherein angelegt hatten. „Take back control“ bedeutete nichts anderes, als dass sie ihre eigenen Regeln – für die Umwelt, das Soziale, staatliche Subventionen etc. etc. – machen wollten, um dann mit Dumping-Preisen Europas Wirtschaft unfaire Konkurrenz zu machen.

Inzwischen sehen sich die EU-Unterhändler gezwungen, um das level playing field, also um faire Wettbewerbsbedingungen zu kämpfen. Dass sie das schaffen werden, ist fraglich angesichts der Lösungen, die diskutiert werden. Vor allem aber werden diese Lösungen alles andere als klar und eindeutig sein.

Es wäre doch eigentlich ganz einfach gewesen: Wer sich auf einem gemeinsamen Markt tummeln will, muss die Spielregeln dieses Marktes befolgen. Und wer die Spielregeln nicht respektieren will, kann eben nicht mitspielen. Man kann nicht Teil einer Fußballiga sein und nach den Rugby-Regeln spielen wollen.

Über anderes muss man in der Tat verhandeln. Schon wahr: Nach dem Brexit gehören die britischen Hoheitsgewässer den britischen Fischern. Aber die wollen große Teile ihrer Fänge wie bisher auf dem Kontinent verkaufen. Für diesen Zugang kann Europa etwas verlangen, zum Beispiel Fangrechte für europäische Fischer.

Stattdessen droht der gesamtwirtschaftlich nahezu bedeutungslose Fischfang zum Faustpfand für die Briten zu werden, um sich Zugänge zum Binnenmarkt zu sichern.

Warum hat Europa sich in so eine Lage gebracht? Vermutlich gibt es mehrere Antworten auf diese Frage.

Zum einen hat die EU den Brexit nie wirklich ernst genommen. Die Briten haben zwar entschieden, dass sie die EU verlassen wollen, aber Brüssel und die kontinentalen Hauptstädte heben seitdem vor allem die pro-europäische Minderheit auf der Insel hervor, die man nicht im Stich lassen dürfe. Deshalb müsse das Vereinigte Königreich so eng wie möglich an die EU gebunden werden. Dass das Land genau das Gegenteil entschieden hatte, demokratisch und mit Mehrheit – in der Haltung der EU war das nie zu erkennen.

Im Gegenteil: Viele europäische Akteure, nicht zuletzt in Berlin, legten regelrecht Fürsorglichkeit an den Tag, so als müsse man die Briten vor sich selbst schützen. Ihr wirtschaftlicher Niedergang, so hieß es dann, könne in niemandes Interesse sein. Schließlich seien sie ja auch ein wichtiger Partner in der Nato.

Nicht zuletzt gibt es auch auf dem Kontinent wichtige (allerdings: Einzel-)Interessen, die einer klaren Trennung entgegenstehen, die der französischen Fischer etwa oder die der deutschen Autoindustrie. Vor allem BMW, das auf der Insel etwa zwei Drittel seiner Minis produziert, hat sich offenkundig fest darauf verlassen, dass ein harter Brexit vermieden wird.

Einem wie Boris Johnson spielt das in die Hände. Die Verachtung für Europa, die er schon in seiner Zeit als Brüssel-Korrespondent einer britischen Zeitung an den Tag legte, hat er auch als Politiker nicht abgelegt. So schließt er dann eben einen Austrittsvertrag mit der EU, in dem die Sonderrolle Nordirlands zwischen Großbritannien und der Republik Irland beschrieben wird, damit dort eine harte Grenze vermieden wird. Und ein paar Monate später lässt er ein Gesetz beschließen, das genau diesen Vertrag bricht und die Regelungen für Nordirland zurücknimmt. Er macht das, weil er es kann. Die EU redet ja trotzdem mit ihm.

Allerdings haben die Verhandlungen auf diese Weise noch ein Thema: Die EU muss jetzt irgendwie sicherstellen, dass die Briten sich dann auch an das halten, was sie mit Brüssel vereinbart haben. Es ist absurd.

Nicht um jeden Preis werde es ein Abkommen geben, versicherte die Bundeskanzlerin nach dem Gipfel tapfer, um dann eilfertig zu versichern, dass „natürlich auch wir Kompromisse machen müssen“. Das war dann wohl der entscheidende Satz. Er unterschlägt allerdings, dass Europa den Briten schon einen Riesenschritt entgegengekommen ist: Von der früher einmal für unauflöslich erklärten Verbindung vom freien Warenverkehr mit der Freizügigkeit für Personen ist schon lange keine Rede mehr. Europa verwässert nun auch den Binnenmarkt.

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