Regelsätze

Kolumne | Direktnachricht

28
12
28
12

Regelsätze

Kolumne | Direktnachricht

13,4 Millionen Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen. Das ergab der Paritätische Armutsbericht und bestätigte damit einen neuen Höchstwert der Armutsquote im Pandemiejahr 2020. Dass sie nicht noch höher ausfiel, ist nur den staatlichen Corona-Hilfen zu verdanken. Als arm gelten dabei Menschen, denen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung steht. Besonders betroffen sind Alleinerziehende, Familien mit drei oder mehr Kindern, Erwerbslose, Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen, Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit und Rentner_innen.

13,4 Millionen Menschen. Let that sink in. Zahlen in solchen Größenordnungen bleiben meistens eher abstrakt für uns, deshalb nur zum Vergleich: Die Niederlande hatten im Jahr 2020 rund 17,4 Millionen Einwohner_innen. Es leben also dermaßen viele arme Menschen in Deutschland, dass ihre Anzahl locker eines unserer Nachbarländer bevölkern könnte.

Am selben Tag, als der Armutsbericht erschien, dominierte er übrigens nicht die Schlagzeilen. Dafür konnte man überall ausführlich zum Beispiel über die neue Sitzordnung im Bundestag lesen. „13,4 Millionen Deutsche unter Armutsgrenze froh, dass Bundestag sich endlich auf Sitzordnung geeinigt hat“, titelte die Satire-Seite „Der Postillon“ passend zu dieser medialen Schieflage.

Wir reden nicht gerne über Armut. Zum einen, weil wir insgeheim ahnen, dass sie uns selbst treffen könnte und wir diesen Gedanken weit von uns schieben wollen. Zum anderen, weil die Verachtung der Armen deutsche Tradition und der Mythos der „Leistungsgesellschaft“ uns tief eingeschrieben ist. Wer nicht genug Geld zum Leben hat, soll eben ordentlich arbeiten gehen (Deutsches Sprichwort).

Die Berichterstattung über Armut und Menschen in prekären Lebensverhältnissen fällt damit viel zu häufig in zwei Kategorien. Entweder gibt man sich einem regelrechten Armuts-Voyeurismus hin, nur um schließlich in die warme Gewissheit zu gleiten, dass man selbst es glücklicherweise besser habe. Oder jemand hat die eigene Armut überwunden und liefert damit den vermeintlichen Beleg, dass jede_r nur des eigenen Glückes Schmied ist und sich dafür nur mehr anstrengen müsse.

Oft wird vor der gesellschaftlichen Spaltung gewarnt, die uns drohe. Dabei existiert der strukturelle Graben durch Armut und Reichtum schon lange, wird seit Jahren größer und drängt immer mehr Menschen in Notlagen. Eine konsequente und nicht-voyeuristische Aufmerksamkeit für diese ist gerade in der Pandemie überlebens­wichtig, denn hier herrscht ein Teufelskreis: Armut macht krank und Krankheit macht arm.

Das generelle Misstrauen gegenüber armen Menschen, sie würden die zur Verfügung gestellten Hilfsmittel missbrauchen, überwiegt auch mit dem Konzept des Bürger_innengeldes der Ampel-Koalition. Mindestens 13,4 Millionen Menschen wird ein Leben in Würde und soziale Teilhabe mutwillig verweigert, solange die Regelsätze weiter ohne echten Realitätsbezug entstehen. Fünf Euro am Tag für Lebensmittel, 1,62 Euro pro Monat für Bildung: So werden Menschen systematisch in Armut gehalten, statt sie dauerhaft hinter sich lassen zu können.

Weitere Artikel dieser Ausgabe