Sag mir, woher du kommst

Aus Bundestag wird Wahlkreistag: Der Stadt-Land-Konflikt zieht ins Hohe Haus ein

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PICTURE ALLIANCE/ZB | Z6944 SASCHA STEINACH
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Sag mir, woher du kommst

Aus Bundestag wird Wahlkreistag: Der Stadt-Land-Konflikt zieht ins Hohe Haus ein

Die zunehmende Zersplitterung des deutschen Parteiensystems hat eine strukturelle Schwäche des deutschen Wahlrechts offengelegt: Wenn die größte Partei fast alle Direktmandate gewinnt, ohne auch nur in die Nähe einer Zweitstimmenmehrheit zu kommen, entstehen immer mehr Überhang- und Ausgleichsmandate. Die so entstehende Aufblähung des Bundestags beschäftigt die deutsche Politik seit Jahren.

Wenn das personalisierte Verhältniswahlrecht auf ein zersplittertes Parteiensystem trifft, hat das aber einen weiteren Effekt, der bislang nur wenig Beachtung findet, obwohl er sogar bei einer befriedigenden Lösung der Überhangmandate bestehen bliebe: Es kommt zu einer Überrepräsentation städtischer Wahlkreise, weil ein immer größerer Teil der Listenabgeordneten aus diesen Wahlkreisen kommt.

It’s the geography, stupid!

Die Frage, in welchen Wahlkreisen die Listenabgeordneten antreten, spielte in der Diskussion über das deutsche Wahlsystem lange keine große Rolle, weil Geographie kein besonders relevanter politischer Faktor war. Das ändert sich gerade. Stadt-Land-Konflikte, die bereits die politische Auseinandersetzung in den USA, Großbritannien, oder Frankreich prägen, gewinnen auch in Deutschland an Bedeutung. Je wichtiger regionale Zugehörigkeit politisch wird, desto wichtiger wird aber auch die Verteilung der Bundestagsabgeordneten über die verschiedenen Regionen Deutschlands.

Eigentlich bemüht sich das Bundestagswahlrecht um ein Höchstmaß an geographischer Proportionalität. Durch die Erststimme ist sichergestellt, dass jeder Bundesbürger von mindestens einer ihm direkt zugeordneten Abgeordneten repräsentiert wird. Zudem sorgen die Landeslisten dafür, dass auch die Bundesländer gleichmäßig repräsentiert sind. Anders als etwa die heute viel diskutierte Repräsentation von Frauen, ist regionale Repräsentation also von Anfang ein elementarer Teil des Bundestagswahlrechts.

In der alten Bundesrepublik führte das Wahlrecht tatsächlich zu einer hohen geographischen Proportionalität. Aus den meisten Wahlkreisen zogen Vertreter beider Volksparteien in den Bundestag ein: die Wahlkreisgewinnerin direkt, die Wahlkreisverliererin über die Landesliste ihrer Partei. Heute zieht in vielen Wahlkreisen jedoch nur noch der Wahlkreisgewinner in den Bundestag ein. Zugleich ziehen aus anderen Wahlkreisen drei, vier und im Extremfall sogar fünf unterlegene Direktkandidatinnen über die Landesliste in den Bundestag ein. Diese Wahlkreise sind dann massiv überrepräsentiert.

Unionsvorteile

Der Treiber dieser Entwicklung ist zunächst einmal die Zersplitterung des Parteiensystems: Damit fünf Wahlkreisverlierer aus demselben Wahlkreis in den Bundestag einziehen können, müssen es überhaupt erst einmal sechs Parteien in den Bundestag schaffen. Eine entscheidende Rolle spielen aber auch die Nominierungsstrategien der Parteien für ihre Landeslisten. Die Parteien vergeben ihre besten Listenplätze in der Regel nämlich an die Kandidaten, die in ihren regionalen Hochburgen antreten. Schließlich gibt es dort die meisten Stimmen zu holen, sodass ein starker Kandidat oder eine starke Kandidatin dort auch den größten Effekt auf das Zweitstimmenergebnis hat. Außerdem haben die Kreisverbände mit den stärksten Wahlergebnissen in der Regel auch die größte Mitgliederstärke und Organisationskraft und somit die besten Chancen, sich parteiintern durchzusetzen.

Die Folge dieser Nominierungspolitik ist, dass in Wahlkreisen, in denen CDU oder CSU klar dominieren, häufig keine andere Partei ihrem lokalen Kandidaten einen vorderen Listenplatz gibt. In Wahlkreisen, in denen die Stimmen stark zersplittert sind, haben hingegen mehrere Parteien einen Anreiz, ihre lokalen Kandidatinnen mit guten Listenpositionen auszustatten.

Großstadtgespräche

Besonders stark zersplittert sind die Wahlergebnisse typischerweise in städtischen Wahlkreisen, sowohl in klassischen Universitätsstädten als auch in früheren Industriestädten mit starken akademischen Milieus. Diese Wahlkreise werden häufig von der Union gewonnen, gleichzeitig holen dort aber auch SPD, Grüne, Linke und häufig auch die FDP überdurchschnittliche Ergebnisse. Dagegen sind ländliche Wahlkreise viel weniger zersplittert und werden daher häufig nur von ihrem direkt gewählten Unionsabgeordneten in Berlin vertreten.

Diese Entwicklung wäre nicht weiter von Belang, wenn Abgeordnete, die über eine Landesliste in den Bundestag einziehen, sich als Repräsentantinnen des gesamten Bundeslandes verstehen würden. Tatsächlich agieren aber auch diese Abgeordneten als Vertreter ihres Wahlkreises. So setzen sich auch Listenabgeordnete in Ausschüssen, die wie der Landwirtschafts-, der Verkehrs- oder der Verteidigungsausschuss über die geographische Verteilung von Haushaltsmitteln mitentscheiden, ganz direkt für ihren Wahlkreis ein. In Anfragen bringen auch Listenabgeordnete die Anliegen ihres Wahlkreises zur Sprache. Dieses Verhalten ist völlig rational: Abgeordnete, die den Heimatwahlkreis vernachlässigen, laufen Gefahr, bei der nächsten Listenaufstellung die Unterstützung ihres heimischen Kreisverbands zu verlieren und ihren bisherigen Platz einzubüßen.

Splitterverluste

Wählerinnen aus Wahlkreisen mit mehreren Abgeordneten haben daher erheblich bessere Chancen, mit ihren Anliegen Gehör zu finden. Noch folgenreicher als die konkrete Bevorzugung einzelner Wahlkreise dürfte aber sein, dass ein bestimmter Typ von Wahlkreis systematisch überrepräsentiert ist: Der Bundestag ist erheblich urbaner, als er bei einer geographisch proportionalen Verteilung der Abgeordneten wäre. Und ein urbaner Bundestag trifft tendenziell urbane Entscheidungen. So stimmen Abgeordnete aus städtischen Wahlkreisen bei Gewissensfragen, etwa zu bioethischen oder gesellschaftspolitischen Fragen, systematisch liberaler ab als Abgeordnete aus ländlichen Wahlkreisen. Vor allem aber bedeutet ein Übergewicht städtischer Abgeordneter auch, dass mehr städtische Abgeordnete in Leitungspositionen aufsteigen und dass die politische Linie der einzelnen Fraktionen von städtischen Abgeordneten geprägt wird.

Das Zusammenspiel von zersplitterndem Parteiensystem und personalisiertem Verhältniswahlrecht wirkt sich also nicht nur auf die Größe des Bundestags aus, sondern auch auf seine geographische Zusammensetzung. Vielleicht liegt darin aber sogar eine stille Weisheit dieses Wahlrechts, denn die Überrepräsentation städtischer Wahlkreise kompensiert die linksliberale urbane Wählerschaft gewissermaßen für die Nachteile, die ihr aus der Stimmenzersplitterung bei der Regierungsbildung entstehen: Indem diese Wähler ihre Stimmen zwischen den Grünen, der Linken und der SPD teilen, reduzieren sie die Chancen, dass eine dieser Parteien die größte Fraktion stellt und das Kanzleramt für sich beanspruchen kann. In Fragen der Repräsentation gereicht ihnen diese Zersplitterung aber zum Vorteil.

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