Schande

Die Singularität des Holocaust wird von alten und neuen Rechten zur selbstgefälligen Stilisierung missbraucht. Was ist da nur los?

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Schande

Die Singularität des Holocaust wird von alten und neuen Rechten zur selbstgefälligen Stilisierung missbraucht. Was ist da nur los?

Der Internationale Holocaust-Gedenktag an diesem Mittwoch wird gleich von mehreren Entwicklungen überschattet. Zum einen hindert uns die Corona-Pandemie daran, dass wir an diesem Tag das tun dürfen, was wir so dringend tun müssen: persönliche Begegnungen mit den wenigen Überlebenden haben, die Zeugen dieses ungeheuerlichen Verbrechens sind. Ihren Worten und Schilderungen lauschen, ihren Schmerz teilen, aber auch ihren Kampfgeist wider das Böse erleben. Vieles davon müssen wir durch digitale Formen des Gedenkens ersetzen, aber die Eindringlichkeit und Nähe eines persönlichen Eindrucks können diese nicht ersetzen.

Überschattet wird das Holocaust-Gedenken in diesem Jahr aber auch von einer mentalen und charakterlichen Deformation, die um sich greift. Ich spreche von Verschwörungsmythen. In ruhigeren Zeiten belächelt man Menschen, die sich aus Bruchstücken von Informationen und sehr viel Einbildung eine eigene Weltsicht zusammenschustern. In dieser unruhigen Zeit erleben wir aber, wie gefährlich das werden kann. Denn das Denken prägt das Handeln, und verwirrte Menschen können sehr viel Schaden anrichten.

Die Mechanik der Verschwörungsmythen ist bekannt und vielfach beschrieben. Sie knüpfen an tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Missständen an und konstruieren ein regelrechtes System aus Feindbildern, in das sich nach Belieben von Georg Soros oder Bill Gates bis zum Polizeibeamten auf der Straße oder dem eigenen Nachbarn jeder und jede einordnen lässt. Aus der eingebildeten Übermacht und Bedrohlichkeit dieser Sündenböcke leitet man dann für sich das Recht ab, Regeln zu missachten, Gesetze zu brechen und auch gewalttätig zu werden. Verschwörungsmythen wirken letztlich wie Drogen. Ihre Konsumenten wollen immer mehr davon haben, und es muss immer härter werden.

Beliefert werden diese Süchtigen auch von Politikern. Der glücklich überwundene Trump hat sie sich zunutze gemacht. Er hat seine eigene Verschwörungstheorie geschaffen, und er hat dabei auf bestehende zurückgegriffen. Viele seiner Anhänger, die am 6. Januar das Kapitol stürmten, haben eine eindeutige Vorgeschichte in rechtsextremen und antisemitischen Organisationen. Zu unrühmlicher Bekanntheit ist QAnon gelangt. Man muss es so deutlich sagen, diese kriminelle Gruppe ist eine wahre Dreckschleuder an Unfug, Lügen und Hass.

Auch in Deutschland kennen wir das Phänomen, und auch in Deutschland gibt es mit der AfD eine politische Kraft, deren Geschäftsmodell wesentlich auf Hass, Lügen und Aufwiegelung beruht. Auch in Deutschland haben wir erlebt, dass radikalisierte Fanatiker in den Reichstag eindringen wollten. Und einen Teil solcher Leute hat die AfD selbst in den Reichstag eingeladen. Im Zuge der Pandemie möchte man aus der Unsicherheit und der Unzufriedenheit Kapital schlagen, und dazu ist jedes Mittel recht. Man verbündet sich mit allen, die in irgendeiner Form ihren Selbsthass ausleben und auf andere projizieren müssen.

Als besonders widerlich empfinden ich und viele andere den Versuch sogenannter Coronaleugner, für sich selbst eine Opferrolle in Anspruch zu nehmen, die den Opfern des Holocaust gleichkommt. Obwohl man Seite an Seite mit bekannten Neonazis marschiert, behauptet man, sich im Kampf gegen eine neue Nazi-Diktatur zu befinden. Man vergleicht sich mit Sophie Scholl oder Anne Frank – eine Überhöhung und Anmaßung, die jegliche reflektierte Distanz vermissen lässt und zugleich eine Relativierung der tatsächlichen historischen Geschehnisse bedeutet. Die Singularität des Holocaust wird zur selbstgefälligen Stilisierung missbraucht.

Mittlerweile heftet man sich bei Demonstrationen in diesen Kreisen auch Judensterne an. Ich weiß nicht, was schändlicher sein könnte, als sich im Angesicht der hochbetagten Überlebenden von Auschwitz, Majdanek und tausender anderer Konzentrationslager und Ghettos an deren Leidensgeschichte zu vergreifen. Es ist der Inbegriff von Empathielosigkeit, Verblendung und Zynismus. Wer das Glück hat, im heutigen Deutschland in Frieden und Freiheit leben zu können, der sollte ein Mindestmaß an Anstand und Demut gegenüber den wirklichen Opfern des Holocaust entwickelt haben.

Aber ich mache mir keine Illusionen, dass diese Instrumentalisierungen aufhören. Das Überschreiten aller roten Linien gehört zum Konzept. Diesen Leuten ist nichts heilig. Gestern waren es die Geflüchteten aus Syrien, heute ist es die Pandemie, und morgen wird es einen neuen Grund geben zu hetzen, aufzuwiegeln und die Geschichte zu missbrauchen und umzudeuten. Solchen Leuten kann man nur zurufen: Schande über Euch!

Das bedeutet allerdings nicht, dass wir dem Treiben tatenlos zusehen müssten. Es muss immer zwei Antworten geben, eine staatliche und eine zivilgesellschaftliche. Ordnungsbehörden haben den Spuk viel zu lange mitgemacht, die Polizei war vielerorts merkwürdig passiv und desinteressiert, selbst wenn Leute ihre eintätowierten Hakenkreuze spazieren führten. Man kann das aber nicht als Kleinkram abtun, der den bürokratischen Aufwand nicht lohnt. Denn genau darauf spekulieren die Hetzer, dass sie Stück für Stück kleine Freiräume für sich etablieren.

Zur staatlichen Antwort gehört auch die Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz und auf Sicht die Prüfung des Parteienverbots. Auch die AfD selbst hat schon viele rote Linien überschritten. Man muss sich nicht dümmer stellen, als man ist. Man muss nicht so tun, als wüsste man nicht, mit welchen Leuten und welcher Anhängerschaft man es zu tun hat. Es ist müßig, die AfD in Flügel oder Strömungen zu unterteilen und mit der Lupe nach scheinbar „Gemäßigten“ zu suchen. Es ist wie bei Trump: Wer dabei ist, ist dabei. Genug der Ausreden!

Zur zivilgesellschaftlichen Antwort gehört die Kampagne #WeRemember, die der Jüdische Weltkongress zum Internationalen Holocaust-Gedenktag gestartet hat. Hunderte von Politikern, Künstlern, Sportlern und anderen Prominenten gehen voran und halten das Andenken an Opfer und Hinterbliebene wach. Zehntausende Menschen in den sozialen Medien zeigen mit Fotos ihre Anteilnahme und machen deutlich: Kein Vergessen! Und nie wieder!

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