Schicksalsgemeinschaft reloaded

Jetzt oder nie: Die Ziele gemeinschaftlichen europäischen Handelns dürfen nicht weiter aufgeschoben werden

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PICTURE ALLIANCE/KIRCHNER-MEDIA
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Schicksalsgemeinschaft reloaded

Jetzt oder nie: Die Ziele gemeinschaftlichen europäischen Handelns dürfen nicht weiter aufgeschoben werden

Die EU stellt das dynamische Zentrum Europas dar. Alle europäischen Länder, die noch nicht Mitglied sind, sind auf vielfältige Weise mit der EU verbunden, die meisten möchten der EU bald beitreten. Von Europas Zukunft zu reden, heißt daher in erster Linie, von der EU – und ihrer Erweiterung – zu reden.

Bestandsaufnahme
Der Krieg Putins gegen die Ukraine hat globale Auswirkungen. Die EU allein kann diese nicht verhindern, da sie kein Global Player ist. Sie möchte es sein, aber dafür hätten die Mitglieder früher aufwachen müssen. Die Ziele gemeinschaftlichen europäischen Handelns müssen jedenfalls überdacht werden.

Bisher, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ging es um europäische Integration im Sinne einer breit aufgestellten Friedensarbeit. Ausgehend vom ursprünglichen wirtschaftlichen Ziel, einen Binnenmarkt zu schaffen, kamen immer neue Felder hinzu, bis hin zum Versuch, gemeinsam Rechts-, Umwelt- und Klima-, Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu betreiben. Faktisch wurden die Unionsziele seit Jahrzehnten angepasst und erweitert. Nationale Egoismen, zum Teil im Verbund mit dem Rückbau von Demokratie, haben dementgegen ansehnliche Fortschritte verhindert.

Zu spät wurde erkannt, dass die Anpassung der Unionsziele an die geopolitischen Weltläufte, wenn sie Früchte tragen soll, nicht ohne mehr Demokratie in der EU und in den Mitgliedsstaaten zu realisieren ist. Leider haben sich Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Garantie der Menschenrechte seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 nicht einmal in Europa unumkehrbar durchgesetzt. Zu sehr verließen sich die Beteiligten darauf, dass das nun so sei. Emotional war das nachvollziehbar, mit der historischen Distanz betrachtet aber war es ein Irrtum, das zu glauben.

Die Grundidee, dass europäische Integration inhaltlich dasselbe ist wie eine breit aufgestellte Friedensarbeit, ist unverändert richtig und jede Mühe wert. Doch hat sich das Umfeld, in dem das bis Anfang unseres Jahrtausends verwirklicht werden konnte, nachhaltig destabilisiert. Eine internationale Ordnung, die die Bezeichnung „Ordnung“ verdient, gibt es nicht mehr. Dass die EU, die Nato und die G7 angesichts des Terrorkriegs gegen die Ukraine die Reihen schnell und entschieden geschlossen haben und sich offen für neue Mitglieder (EU, Nato) beziehungsweise Gastpartner (G7) zeigen, ist ein notwendiger Schritt, aber nur ein Anfang.

Was über den Tag hinaus zu tun ist

Die EU ist klarerweise stark mit Krisenmanagement (Krieg Russlands gegen die Ukraine, Flüchtlinge aus vielen Krisen- und Kriegsregionen, Energie, Klimawandel, globale Ernährungssicherheit, Abwehr des russischen und chinesischen Neokolonialismus, etc.) beschäftigt. Damit der Kern der europäischen Integration, die Friedensarbeit, erhalten bleibt, dürfen andere große Aufgaben trotzdem nicht mehr aufgeschoben werden. Ohne eine Reform der EU-Verträge wird es nicht gehen. Im Grunde wissen das alle Mitgliedsländer, stecken aber lieber der Kopf in den Sand.

Der kürzliche Beschluss des Europäischen Rats, die Ukraine und Moldau zu Beitrittskandidaten zu machen, ist richtig, und er hat die Erweiterung der EU um die Westbalkanländer wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Georgien wurde nichts angeboten.

Dass es bisher nicht voranging, liegt an vier Hauptgründen: 1. Zu wenig Reformerfolge in den betreffenden Ländern insbesondere bei der Korruptionsbekämpfung und dem Ausbau der Rechtsstaatlichkeit. 2. Hindernisse aufgrund nationalistischer Geschichtspolitiken in EU-Mitgliedsländern (z.B. Bulgarien versus Nordmazedonien). 3. Weigerung der 27 EU-Mitglieder wider besseres Wissen, die EU-Verträge zu reformieren. 4. Mangelndes Gespür dafür, dass Handlungsoptionen nicht ewig bestehen.

Für die Erweiterung der EU, gegen die Bedenkenträger

Letzteres spielt auch darauf an, dass in den 1950er-Jahren, relativ kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sechs Staaten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Deutschland, Frankreich und Italien) trotz erheblicher Streitpunkte, Divergenzen und Ungleichgewichte die institutionelle europäische Integration, zunächst mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohl und Stahl (EGKS), dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), ins Werk setzten. Das Vorhaben lautete, in einem gemeinsamen institutionellen Rahmen das, was diese Länder damals trennte, abzubauen. Das Vorhaben lautete eben nicht, zuerst alles Trennende abzubauen und dann erst in gemeinsamen Institutionen zusammenzukommen. Den politischen Akteuren und der Zivilgesellschaft damals war klar, dass die Option auf eine europäische Einigung „jetzt oder nie“ zu nutzen war.

In Bezug auf die heute anstehende EU-Erweiterung kann man nur mit Nachdruck an diese Haltung erinnern. Glaubt denn in der EU niemand mehr daran, dass das, was die Westbalkanstaaten trennt, durch einen gemeinsamen EU-Beitritt besser und schneller bewältigt werden könnte? So wurde ja auch Deutschland in den 1950er-Jahren vor allem deshalb eingebunden, damit es nicht woandershin abdriftet. Wer nicht möchte, dass Serbien noch abhängiger von der Russischen Föderation wird, sollte sich die Frühphase der europäischen Integration ansehen.

Zwischen 1986 (Einheitliche Europäische Akte) und 2007 (Vertrag von Lissabon, in Kraft getreten 2009) bewiesen die Mitgliedsländer Handlungsstärke und Reformwillen: Fünf Vertragsreformen in 20 Jahren. Davon ist nichts übrig. Beides wieder herzubringen scheint die allergrößte Schwierigkeit zu sein.

Es muss aber sein, ohne eine Vertragsreform wird es nicht gehen. Das häufige Erfordernis von Einstimmigkeit muss weitgehend beseitigt werden. Außerdem müssen die gemeinschaftlichen Durchsetzungsrechte und -instrumente gestärkt werden.

Das bedeutet keinen Verlust an „nationaler Souveränität“, wie oft behauptet wird. „Nationale Souveränität“ ist schon lange nur mehr ein Mythos. Souveränität für den einzelnen Staat gibt es nur noch, wenn dieser einer starken Gemeinschaft angehört und diese nicht durch nationalistisch motivierte alberne Vetos blockiert.

Die Bürgerinnen und Bürger der EU müssen mehr ins Boot geholt werden. Dazu braucht es Erfolge der EU, die die Menschen unmittelbar spüren. Es braucht aber auch mehr demokratische Partizipationsrechte, damit in Zeiten, in denen keine klaren „Erfolge“ vorzuweisen oder diese wie bei der Klimapolitik erst in Jahrzehnten zu erwarten sind, die Basis dem Projekt Europa erhalten bleibt.

„Weil wir Europa vom Menschen her denken“, wie es Ursula von der Leyen als neue EU-Kommissionspräsidentin in ihrer Rede vor dem EU-Parlament im November 2019 ausdrückte.

Ja, so sollte es sein.

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