Schluss mit den Sonntagsreden

Die finanziellen Benachteiligungen durch Mutterschaft in Deutschland sind ein politischer Skandal

19
06
SHUTTERSTOCK
19
06
SHUTTERSTOCK

Schluss mit den Sonntagsreden

Die finanziellen Benachteiligungen durch Mutterschaft in Deutschland sind ein politischer Skandal

„Als Kind kam meine Mutter mir stark vor“, sagt Anahita Sattarian. Doch die Bewunderung der Stärke schlug in Wut um, als sie verstand, dass die Rücken- und Gelenkschmerzen ihrer Mutter vom langen Stehen und den immer gleichen Bewegungen beim stundenlangen Broteschmieren kamen und dass ihre Mutter nachmittags nicht mit ihr auf den Spielplatz gehen konnte, weil sie dafür zu erschöpft war. Sattarians Mutter war alleinerziehend und arbeitete in einer Bäckerei, dafür stand sie morgens um halb vier auf. „Meine Mutter hat sich nie beschwert, sich immer abgeplagt, und das Geld hat trotzdem nie gereicht“, erzählt die Autorin und Psychologiestudentin, die sich für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte engagiert.

„Personen mit multiplen Risikofaktoren für Armut“ nennt die Wissenschaft alleinerziehende Mütter mit Migrationsgeschichte wie Sattarians Mutter. Und auch für Frauen ohne Migrationsgeschichte ist Mutterschaft oft die Eintrittskarte für Geldprobleme. Es gibt sogar einen Begriff dafür: Motherhood Wage Penalty steht für mutterschaftsbedingte Lohneinbußen. Mutterschaft reduziert die Löhne von Frauen und ist damit ein wesentlicher Grund für den Gender Pay Gap, die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen. Frauen haben im Jahr 2020 in Deutschland durchschnittlich 18 Prozent weniger pro Arbeitsstunde verdient als Männer. Am Ende des Lebens steht dann noch eine weitere Lücke, der Gender Pension Gap, der Unterschied der Rentenansprüche zwischen Frauen und Männern. In Deutschland beziehen Frauen ein um 59,6 Prozent geringeres eigenes Alterssicherungseinkommen als Männer.

Die Gründe für die finanziellen Benachteiligungen durch Mutterschaft sind vielfältig. Durch die längeren Auszeiten, die viele Mütter nach der Geburt nehmen (müssen), werden zum einen ihre Qualifikationen entwertet. Zum anderen gibt es negative Signalwirkungen, weil viele Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen Mutterschaft als Ausdruck fehlender Karriereorientierung betrachten. Was Quatsch ist – und zutiefst patriarchal.

Die Auswirkungen in Zahlen: Mütter von zwei Kindern haben in Deutschland bis zum Alter von 45 Jahren bis zu 42 Prozent weniger verdient als kinderlose Frauen. Unmittelbar nach der Geburt eines Kindes müssen Mütter in Deutschland mit Lohneinbußen von bis zu 18 Prozent rechnen. Besonders sichtbar ist das an der Situation von Alleinerziehenden, zu 90 Prozent sind das Frauen. Laut Statistischem Bundesamt war 2018 rund ein Drittel von ihnen in Deutschland von Armut bedroht, und 34,2 Prozent waren auf Leistungen aus der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Sozialgesetzbuch II, also Hartz IV, angewiesen.

Das Steuersystem setzt die falschen Anreize

Das Steuersystem in Deutschland stammt aus Zeiten, in denen heterosexuelle Paare verheiratet waren, der Mann erwerbsarbeitete und die Frau als Hausfrau zu Hause blieb. Aus dieser Zeit stammt das sogenannte Ehegattensplitting, und es bevorteilt genau diese Paare steuerlich. Den größten Vorteil haben dabei die, in denen ein Partner viel verdient und ein Partner, meistens eine Partnerin, kein oder nur ein geringes Einkommen hat. Ehepaare können damit bis zu 18 000 Euro Steuern im Jahr sparen. „Der Anreiz für die Ehe ist höher als der Anreiz zum Arbeiten“, sagt Jutta Allmendinger, Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin.

Das Forschungsinstitut DIW hat einen Reformvorschlag entwickelt: Die Grundfreibeträge von beiden Ehegatten sollen steuerfrei bleiben, alles darüber würde individuell versteuert. Ulrike Spangenberg, Juristin und Kritikerin des Ehegattensplittings, fordert eine gänzliche Abschaffung: „Stattdessen sollte es eine ordentliche Familienförderung geben, durch direkte finanzielle Leistungen und Investitionen in gute und ausreichende Betreuung. Kinder und Eltern brauchen Unterstützung, nicht Ehepaare. Da ist die Politik gefragt, etwas zu verändern.“ Doch da Politik noch immer mehrheitlich von Nutznießern des veralteten Ehegattensplittings gemacht wird, ändert sich: nichts.

Im Fazit eines Reports des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts nennen die Autorinnen Forderungen, um mutterschaftsbedingte Lohneinbußen zu verhindern oder zumindest zu minimieren: betriebliche Vereinbarkeitsmaßnahmen und Teilzeit in allen Karrierestufen, Abschaffung des Ehegattensplittings, Verlängerung der nicht übertragbaren Partnermonate bei Elternzeit – das sind 60 Tage der gesamten Elternzeit, die jeweils einem Elternteil zustehen und bei Nichtnutzung verfallen – und ein Recht auf Familienarbeitszeit, die für beide Partner eine kürzere Arbeitszeit vorsieht. Alles Maßnahmen, die partnerschaftliche Arbeitsteilung und progressive Geschlechterbilder fördern.

Unterschiedliche Erwerbsbiografien

Das Ehegattensplitting und das daraus resultierende Ernährermodell haben dafür gesorgt, dass Generationen von Frauen in heterosexuellen Beziehungen abhängig von ihren Ehemännern waren und noch sind. Das ist nicht die individuelle Schuld von einzelnen Frauen, sondern ein Produkt des Systems, in dem wir leben. Das System setzt monetäre Anreize, und wenn Paare rechnen, dann kommt nicht selten als das einzige finanziell Sinnvolle das Ernährermodell inklusive hinzuverdienender Ehefrau raus. So leben wir in einem System, in dem sich Erwerbsbiografien von Frauen eklatant von Erwerbsbiografien von Männern unterscheiden. Mütter geben für die Kindererziehung – und manchmal auch für die Pflege ihrer Eltern – ihre Erwerbstätigkeit oft lange auf, unterbrechen sie oder arbeiten in Teilzeit. Väter entscheiden sich für Vollzeit, auch wenn sie Kinder bekommen.

Bei vielen Frauen beginnt der soziale und wirtschaftliche Abstieg mit der Trennung oder Scheidung und den dann steigenden Kosten eines Single-Haushalts. Da die meisten Mütter für die Kinder und den Haushalt zuständig waren, fehlt ihnen die Berufspraxis in der Erwerbsarbeit. Nach einer möglichen Trennung haben Mütter oft wenig bis keine Möglichkeiten, einen Job zu finden, der sie im Alter absichern kann. Sie arbeiten häufig in Teilzeit, haben dadurch kein ausreichendes Einkommen und kaum Chancen auf Karriereschritte.

Von diesen Ungerechtigkeiten sind vor allem auch Alleinerziehende betroffen. Weil sie allein für alles – Erwerbsarbeit und Care-Arbeit – verantwortlich sind, arbeiten sie häufig in Teilzeit. Wenn überhaupt. Altersarmut ist also besonders für Alleinerziehende und für Eltern pflegebedürftiger Kinder beinahe programmiert. Ehefrauen bekommen zwar später keine eigenen Rentenansprüche, aber als Witwen die Witwenrenten. Alleinerziehende sind auch in der Rente besonders benachteiligt.

Das Thema Armut muss enttabuisiert werden

Kein Geld zu haben und darüber zu sprechen, ist ein Tabu. Es gibt das gesellschaftliche Vorurteil, Armut sei das Resultat eines persönlichen Versagens. Auch alleinerziehende Mütter sind häufig von diesem Schuldgefühl betroffen. Miriam Hoheisel, Geschäftsführerin des Verbands alleinerziehender Mütter und Väter, macht jedoch deutlich: „Das ist kein persönliches Versagen, sondern Ausdruck der strukturellen Diskriminierung, die Alleinerziehende zu spüren bekommen.“ Fehlende Kinderbetreuung, unflexible Arbeitszeiten, das erhöhte Vereinbarkeitsproblem, das vor allem Alleinerziehende betrifft.

Um das Thema Armut zu enttabuisieren, ist es gut, dass immer mehr Menschen darüber sprechen – und über Geld. Mittlerweile gibt es sogar viele Menschen, oft Frauen, die ein Geschäft daraus gemacht haben, anderen Frauen zu sagen, wie sie an (mehr) Geld kommen. Ihre Workshops heißen: „So legst du dein Geld sicher an“, „So verhandelst du mehr Geld“ oder „Alles, was du über ETFs wissen musst“. Es spricht nichts dagegen, Informationen zu sammeln über die finanziellen Ungerechtigkeiten der Geschlechter. Es spricht nichts dagegen, dieses Wissen für sich selbst zu nutzen und es anderen anzubieten. Es spricht nichts dagegen, Tipps zu geben und sich zu holen – darüber, wie man Aktien anlegt und aus dem, was man hat, mehr macht. Aber: Wer kein Geld hat, kann kein Geld anlegen. Diese Business-Angebote gehen davon aus, dass für alle alles gleichermaßen möglich sei. Motto: „Du kannst es schaffen, wenn du nur willst.“ Das ist aber nicht so. Nicht in der Welt, in der wir aktuell leben.

Die Chimäre vom fehlenden Willen

Solange der Kern der Ungerechtigkeiten strukturell bedingt ist, ist mit diesen Business-Kursen nur denen geholfen, die eh schon näher an der Kohle dran sind als andere. Wenn sie zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden, haben sie die Möglichkeit, Geld zu verhandeln. Wenn sie aber nicht eingeladen werden – zum Beispiel, weil ihr Nachname davon erzählt, dass ihre Familie eine Einwanderungsgeschichte hat und sie deshalb von Rassismus betroffen sind, oder weil sie Mutter mehrerer Kinder und deshalb für den familienunfreundlichen Arbeitgeber raus aus dem Rennen sind – dann können sie gar nicht erst ein gutes Gehalt verhandeln. „Du musst es nur wollen“, stimmt nur für einen sehr privilegierten Teil der Frauen. Der Rest ist und bleibt abgehängt – und fühlt sich doppelt gescheitert, weil er beziehungsweise sie es offensichtlich nicht „richtig gewollt“ hat.

Viel wichtiger als das Wollen sind politische Lösungen, die dafür sorgen, dass alle Menschen finanziell versorgt sind. Es braucht Ideen für Absicherung im Alter auch für die Menschen, mehrheitlich Frauen, die in ihrem Leben Kinder erzogen oder Eltern gepflegt haben. Eine Idee ist das bedingungslose Grundeinkommen. Spätestens die Coronakrise, deren größte Fürsorge-Last – schon wieder – Mütter tragen, hat eines gezeigt: Wir alle sind davon abhängig, dass wir uns umeinander kümmern. Und das muss in einem kapitalistischen System auch fair bezahlt oder immerhin ausgeglichen werden.

Und ja, es ist gut, dass Frauen mehr Geld fordern. Es ist gut, dass es immer mehr gleichberechtigte Beziehungen gibt, in denen Partner und Partnerinnen sich unabhängig von ökonomischen Entscheidungen für- oder gegeneinander entscheiden. Es ist gut, wenn Mütter für mehr Geld streiten. Mütter sollen finanziell unabhängig sein – für ihre Kinder und für sich selbst.

„Ich habe mir nie ein anderes Leben gewünscht“, sagt Anahita Sattarian heute. „Aber ich hätte meiner Mutter ein anderes Leben gewünscht.“

Weitere Artikel dieser Ausgabe