Selig sind die Sanftmütigen

Glücksformel 2021 – Abschied von falsch verstandener Männlichkeit. Eine Handreichung

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PICTURE ALLIANCE/ZB | Z6944 SASCHA STEINACH
Solidarität und Liebe: für alle schöner
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PICTURE ALLIANCE/ZB | Z6944 SASCHA STEINACH
Solidarität und Liebe: für alle schöner

Selig sind die Sanftmütigen

Glücksformel 2021 – Abschied von falsch verstandener Männlichkeit. Eine Handreichung

Mein bester Freund hieß Johannes. Wir waren vier Jahre alt, unsere Lieblingsfarben waren Gelb und Blau, und wenn wir mit meinen Barbie-Puppen spielten, wollte Johannes immer die mit der Glitzerhaut sein. Wir schmusten mit seiner Katze, weinten im Kino, als Bambi starb, und wenn Johannes seinen verschwundenen Vater vermisste, weinte er auch. Mit sechs hörte Johannes auf zu weinen. Die Katze streichelte er nicht mehr, die schleuderte er jetzt am Schwanz durch den Vorgarten. Bis sie weglief. Ich ging ebenfalls und suchte mir einen neuen besten Freund: eine beste Freundin.

Zur Frau gemacht zu werden, ist kein Spaß. Zum Mann gemacht zu werden, aber auch nicht.

Für die 2020 veröffentlichte Studie Boys and Sex sprach Peggy Orenstein mit mehr als hundert jungen Männern aus den USA zwischen 16 und 21 über Männlichkeit, Sex und Liebe. Fast alle sagten, sie hätten im Laufe des Erwachsenwerdens die Verbindung zu ihren Herzen gekappt. Kappen müssen, weil sie nicht verletzlich sein, sich nicht verletzbar zeigen dürften.

In der Erziehung zum Mann heißt es weiterhin, wenn auch oft nicht explizit: Beherrsche Dich, bring das Opfer – es wird sich lohnen. Tränen runterschlucken, hart sein, kämpfen, konkurrieren. Jungen hören heute wie vor dreißig, wie vor hundert Jahren: „Heul’ nicht!“ Und: „Du bist doch kein Mädchen.“ Das patriarchale binäre Denken legt ihnen immer noch die Abspaltung all dessen nahe, was vermeintlich von Natur aus das andere Geschlecht, die Frau ausmacht.

Dieses Denken wiederum ist nicht „der Natur“ geschuldet, aber es sitzt tief und strukturiert unser Zusammenleben grundlegend. Dazu hat die moderne Wissenschaft beigetragen, indem sie den Körpern mit und denen ohne Uterus jeweils bestimmte, einander entgegensetzte Eigenschaften zuschrieb, allen voran: Rationalität hier und Emotionalität da – und es war immer klar, was besser war. So ließ sich die patriarchale Rollenverteilung auch in der angeblich freien bürgerlichen Gesellschaft aufrechterhalten, eine Rollenverteilung, die durch die Sphärentrennung im Kapitalismus nur untermauert wurde: Den einen wurde im Privaten Fürsorglichkeit abverlangt, den anderen in der Öffentlichkeit und in der Fabrik Härte.

Doch dank jahrzehntelanger feministischer Kämpfe ist etwas in Bewegung gekommen. Und so brechen die Grenzen der Binarität endlich auf: Das Gesetz erkennt eine dritte Option an, progressive Mediziner*innen gehen mittlerweile gar davon aus, dass es so viele Geschlechter wie Menschen gibt, und auch die jungen Männer, die Autorin Orenstein interviewt hat, unterlaufen die patriarchale Ordnung schon allein durch ihre Gesprächsbereitschaft. Gerade diejenigen unter ihnen, die fester Teil von Jungscliquen sind, artikulieren Erleichterung, über die Männlichkeitsanforderungen zu reden, und zwar weil sie sich ohnehin Gedanken machen. Orensteins Interviews zeigen vor allem das Bedürfnis nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschlechterordnung.

Die MeToo-Debatte war Ausdruck und gleichermaßen Antrieb einer Veränderung, die schließlich zur Diskussion über „toxische Männlichkeit“ führte. Viele junge Männer spüren selbst, am eigenen Leib, was damit gemeint ist: Dass sie darunter leiden und dass sie andere leiden machen. Und so hat kürzlich auch die American Psychological Association, mit 120 000 Mitgliedern einer der größten Psycholog*innenverbände der Welt, Richtlinien für die „Psychologische Arbeit mit Jungen und Männern“ veröffentlicht und darin erstmals Tugenden problematisiert, die als männlich gelten, wie etwa Härte sich selbst gegenüber und das Leistungsideal.

Darüber echauffierten sich ein paar Autoren. Einige Männer unterstellten gar, dass der Feminismus sie sukzessive kleinmachen und unterdrücken wolle. Vielleicht passt dazu der Spruch, der seit 2015 im Netz kursiert: When you’re accustomed to privilege, equality feels like oppression. Wenn Du Privilegien gewöhnt bist, fühlt sich Gleichheit wie Unterdrückung an.

Heute und hier haben Männer – zumindest diejenigen, die als deutsche und heterosexuelle Männer gelten – noch eine Menge Privilegien, sie haben mehr Freiheiten und mehr Chancen als alle anderen Geschlechter. Die Freiheit etwa, nachts allein die Abkürzung durch den Park zu nehmen, die Chance, Chef zu werden. Diejenigen, die als Frauen gelten, teilen dagegen die Chance darauf, angegrapscht zu werden. Alle jungen Männer, mit denen Orenstein sprach, kennen jeweils mindestens einen anderen Mann, der Frauen gegenüber bereits körperlich übergriffig war.

Viele von ihnen sehen sich angesichts dieser Verhältnisse in der Verantwortung, die Geschlechterordnung weiter aufzurütteln. Dass Feminismus ein Thema für alle ist, glauben nach Umfragen immer mehr junge Männer – bei unter 24-jährigen Männern war der Anteil derer, die sich als Feministen bezeichnen, in Deutschland 2016 doppelt so hoch wie bei Männern über 55 Jahren (13 zu 6 Prozent). Diese jungen Männer besuchen neuerdings Kurse zu „kritischer Männlichkeit“, um ihren Habitus zu hinterfragen, darüber nachzudenken, wie laut und wie oft sie ihre Stimmen im Seminar und im Meeting erheben, wie breitbeinig sie in der U-Bahn oder in der Konferenz sitzen. Sie inspirieren sich gegenseitig, ihre Identitäten zu politisieren, die historische Bedingtheit, die Gewachsenheit der vermeintlich natürlichen Unterschiede zu reflektieren. Weil sie solidarisch sind, weil sie dafür einstehen wollen, dass alle einmal gleichermaßen frei sein können, egal welches Geschlecht sie haben. Und weil sie merken, dass auch sie selbst dann erst wirklich frei wären.

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