Standortbestimmung

Kolumne | Direktnachricht

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Standortbestimmung

Kolumne | Direktnachricht

Ungeregelte Migration, Integrationsverweigerer, kleine Paschas, Vornamensabfrage von Tatverdächtigen, kulturelle Überfremdung, keine Sprachen außer Deutsch auf deutschen Schulhöfen … Aber das sind ja gleich zig rassistische Debatten auf einmal? Das geht nun wirklich nicht. Doch! Mit „Silvester-Überraschung“. Das ist Integrations­debatte, Wahlkampf und geballte Stigmatisierung – alles in einem. Besonders die Wunschliste der Union und AfD scheint damit schon zu Jahresbeginn nahezu komplett erfüllt.

Die sogenannte „Debatte“ zum Jahreswechsel ist freilich nur neues Schwarzpulver in alten Rohren und keineswegs überraschend. Kolumnistin Simone Dede Ayivi resümiert dazu: „Integrationsdebatten sind Schrott. Es kommt nie irgendetwas Gutes dabei rum. Es ist reine Provokation, die von Leuten ausgeht, die keine Ideen oder kein Interesse daran haben, große Fragen anzugehen.“

Enger Wohnraum, prekäre Lebensverhältnisse, häusliche Gewalt, fehlende Freizeitangebote, was gerade für junge Menschen die Straße zum einzigen Ort sozialer Begegnung macht – hier könnte man nun überall konsequent ansetzen, Soziale Arbeit ausbauen und einen sinnvollen Wahlkampf führen. Doch statt soziale Schwierigkeiten anzusprechen, klebt man bloß das Wort „Problem“ an Bezirke mit hohem Anteil von Schwarzen und Menschen of Color. Auf bittere Weise wird sichtbar, dass sie als Betroffene jener Probleme nur als ihre Verursacher*innen gelten, als Wahlklientel aber ignoriert werden. Wie „praktisch“ ist es doch, dass die einen zu jung zum Wählen sind, die anderen gar nicht erst dürfen, und wer übrig bleibt, soll sich beim Wahlzettel halt eine Partei aussuchen, die das rassistische Blame Game am seltensten mitgespielt hat.

Bei all diesen Differenzierungen geht es übrigens nicht darum, das Geschehene abzuwiegeln. Auch ich musste als erste Tat des Jahres die Feuerwehr rufen und möchte das nie wieder tun müssen. Während sich aber Leute wie Friedrich Merz in Stammtischparolen suhlen und das Politik nennen, sollten wir anderen unbeirrt weiter auf die tatsächlichen Wurzeln der Aggressionen hinweisen, damit die damit verbundene Gewalt möglichst nicht mehr passiert. Dafür müsste zum Beispiel auch über toxische Männlichkeit als ideologische Grundlage solcher Ausbrüche gesprochen werden und wie sie schon lange gewisse Dynamiken im öffentlichen Raum befeuert – sowohl auf Täter- als auch auf Polizeiseite. Denn neu sind die Krawalle bei weitem nicht und erst recht nicht auf Berlin beschränkt. Wer ein anderes Bild zeichnet, möchte es bewusst verzerren.

Daran haben auch Polizei und Medien ihren Anteil. Das Jahr war bereits über eine Woche alt, als die Polizei genauere Täterzahlen veröffentlichte. Bis dahin waren die ersten, falschen Zahlen schon lange in der Welt und prägten die Diskussion. Besonnen Fakten abzuwarten schien unnötig, zumal mittlerweile eh das Recht des Stärkeren gilt: Wer zuerst und am lautesten den erzählerischen Rahmen für eine „Debatte“ setzt, hat gewonnen. Es ist also leider keine Überraschung, dass es die „Silvesterdebatte“ gab. Dass sie überhaupt so stattfinden konnte, bleibt aber eine Schande.

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