Taktieren und lavieren

Bei seinem Europa-Besuch sucht Joe Biden vor allem Verbündete gegen China. Aber Europa zögert

12
06
PICTURE ALLIANCE/REUTERS | KEVIN LAMARQUE
Good to be back, friends: Joe Biden
12
06
PICTURE ALLIANCE/REUTERS | KEVIN LAMARQUE
Good to be back, friends: Joe Biden

Taktieren und lavieren

Bei seinem Europa-Besuch sucht Joe Biden vor allem Verbündete gegen China. Aber Europa zögert

Das 21. Jahrhundert wird Asiens Zeitalter. Fast zwei Drittel der Weltbevölkerung lebt in der Region, die seit ein paar Jahren auch „Indo-Pazifik“ genannt wird. Sie verzeichnet das dynamischste Wirtschaftswachstum, und der dort geleistete Beitrag zum globalen Bruttoinlandsprodukt steigt stetig. Und wenngleich man nicht den Fehler begehen sollte, Asien mit China gleichzusetzen (was Propagandisten in Peking allzu gern tun): Den größten Aufschwung in den vergangenen Jahrzehnten hat das von der Kommunistischen Partei regierte „Reich der Mitte“ erlebt – je nach Berechnung schon heute die größte Volkswirtschaft der Welt und auf dem Weg zur Supermacht.

Dennoch führt die erste Auslandsreise von US-Präsident Joe Biden nach Europa. Beziehungsweise: gerade deshalb.

Denn mit Bidens Wahlsieg hat sich vieles geändert, nicht zuletzt für die Europäerinnen. Sie müssen sich nicht länger aus dem Weißen Haus heraus beschimpfen lassen und einer US-Regierung zusehen, die sich aktiv um die Zerstörung der Europäischen Union bemüht. „Ein Europa, geeint, frei und in Frieden lebend“, wie es US-Präsident George H.W. Bush erstmals im Mai 1989 formulierte, ist nun wieder implizites Ziel amerikanischer Politik. (Die Briten erfahren dies gerade in Sachen Nordirland; in der Frage steht die Biden-Regierung hinter der EU.)

Geblieben aber ist Washingtons Fixierung auf China. Und während Biden noch vor zwei Jahren eher auf der Seite derjenigen stand, die argumentierten, man solle das Land nicht überschätzen und mit den Anmaßungen der chinesischen KP ein wenig gelassener umgehen, hegt der US-Präsident nun offenbar doch die Befürchtung, Chinas autoritärer Totalitarismus könne sich dem freiheitlich-demokratischen System am Ende als überlegen erweisen. David Brooks von der New York Times sagte Biden Ende Mai: „Wir sind so ungefähr an einem Punkt angelangt, wo der Rest der Welt nach China blickt.“

So richtet sich der Blick bei Bidens Meeting-Marathon – vom G7-Treffen in Cornwall über die Nato- und EU-US-Gipfel in Brüssel bis hin zu Bidens Tête-à-Tête mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin in Genf – ebenfalls nach China. Aus amerikanischer Sicht geht es vor allem darum, ein möglichst großes Maß an Übereinstimmung mit den europäischen Verbündeten herzustellen, wie sich der Konkurrent um die Weltmacht sicherheitspolitisch einhegen lässt.

Verkompliziert wird das Ganze durch das Prisma, durch das die Biden-Regierung die US-Außenpolitik grundsätzlich betrachten will: Es soll eine Außenpolitik „für die Mittelschicht“ sein, eine, die dem „einfachen“ Amerikaner oder der „einfachen“ Amerikanerin zugute kommt oder zumindest nicht auf ihre Kosten geht, was angeblich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten der Fall war (Belege dafür sind allerdings rar; hausgemachte Ungleichheit und ein unfaires Steuersystem spielen eine viel wichtigere Rolle). Die gigantischen Konjunkturmaßnahmen und Infrastrukturinvestitionen bilden das innenpolitische Pendant dazu.

Vor diesem Hintergrund mag verständlich erscheinen, dass sich die Begeisterung der Europäer über Bidens demonstrative Aufwartung beim „alten Kontinent“ in Grenzen hält. Selbst wenn man die Gefahr, die für die EU von China ausgeht, heutzutage klarer sieht als noch vor ein paar Jahren und Europas öffentliche Meinung nach Pekings Masken- und „Wolfskrieger“-Diplomatie von der Volksrepublik nicht mehr allzu viel hält: In Brüssel und den anderen Hauptstädten Europas will man sich von Washington nicht den Kurs diktieren lassen, sondern eigene Handlungsspielräume erhalten – auch wenn China seinerseits mit maßlosen Gegenreaktionen und Rhetorik die Europäer praktisch in die Arme Washingtons treibt.

Allen voran Angela Merkel pocht auf den eigenen Kurs. Auf den letzten Metern ihrer 16-jährigen Amtszeit sieht die Bundeskanzlerin offenbar nicht im Geringsten ein, warum sie ihr Sonderverhältnis zu Chinas Präsident Xi Jinping aufgeben sollte. Sorgt nicht Deutschlands gerade einmal wieder boomendes China-Geschäft dafür, dass die deutsche Wirtschaft weit besser aus der Krise kommt als andere?

Wie schon bei der diesjährigen „Ersatz“-Münchner Sicherheitskonferenz dürfte Biden das eine oder andere Mal Merkels kalte Schulter zu sehen bekommen – und das von einer Kanzlerin, die einst als überzeugte Transatlantikerin startete, durchaus berührend von ihrer Sehnsucht als eingemauerte DDR-Bürgerin sprach, einmal die Vereinigten Staaten besuchen zu können, und US-Präsident George W. Bush zum texanischen Grillen ins vorpommersche Trinwillershagen einlud. (Das Zwei-Prozent-Ziel der Nato als Vorgabe für das Niveau der Verteidigungsausgaben hat Merkel 2014 zwar versprochen, aber nicht erfüllt. Das muss nun binnen drei Jahren geschehen, soll Deutschland Bündnistreue beweisen – wer immer ihr im Bundeskanzleramt folgt, wird sich noch bedanken.)

Hinter dem europäischen Mangel an Euphorie steht auch die verbreitete Sorge, dass Bidens politische Tage bereits gezählt sein könnten. Bei den Zwischenwahlen im Herbst 2022 dürften die weiterhin von Donald Trump dominierten Republikaner in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit erobern, zwei Jahre später dann gar Trumps zweite Amtszeit anstehen – oder die eines Trumpisten vom Schlage eines Ted Cruz oder Josh Hawley. Sollte man da nicht sehr vorsichtig sein, sich von den Amerikanern „einspannen“ zu lassen?

Bidens Verengung der US-Außenpolitik und europäische Zögerlichkeit: Beides sorgt dieser Tage für den fatalen Eindruck, der einst so fest in sich ruhende Westen treibe auseinander. Dagegen helfen keine schönen summit optics. Denn Taktieren und Lavieren kann sich keine Seite mehr leisten: Nur jetzt und in den kommenden Monaten könnten Amerikaner und Europäer die Fortschritte erzielen und selbst für den Fall weiterer trumpistischer Perioden „festschreiben“, die ihre gemeinsame Zukunft sichern; solche, die den Bevölkerungen im eigenen Land vor Augen führen, dass sich mit Multilateralismus und Werteorientierung tatsächlich mehr erreichen lässt als mit Nationalismus und Zynismus.

Der Durchbruch bei der Mindestbesteuerung internationaler Unternehmensgewinne ist ein hoffnungsvolles Zeichen, die Einrichtung eines von den Europäern gewünschten transatlantischen Handels- und Technologierats wäre ein weiteres. Doch das kann nur der Auftakt sein: Die transatlantischen Beziehungen brauchen einen Quantensprung –neue Ideen, neue Dynamiken und die Einsicht, dass man auch engen Partner Angebote machen muss.

Sonst bleibt am Ende nur der gemeinsame Abstieg. Der könnte sich im Fall Europas, das seine eigene Sicherheit nicht ohne amerikanische Hilfe gewährleisten kann, womöglich noch schneller vollziehen als der Amerikas. Chinas herrische Autokraten mit Präsident Xi Jinping an der Spitze müssten dazu selbst gar nicht mehr viel tun.

Weitere Artikel dieser Ausgabe