Teil von Deutschland

Syrien ist nicht sicher, trotzdem wollen die CDU-Innenminister dorthin abschieben. Syrische Aktivisten organisieren Widerstand – und nebenbei sich selbst

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PICTURE ALLIANCE/GEISLER-FOTOPRESS
Flagge (der syrischen Revolution) zeigen: Demonstranten in Köln 2020
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Flagge (der syrischen Revolution) zeigen: Demonstranten in Köln 2020

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Syrien ist nicht sicher, trotzdem wollen die CDU-Innenminister dorthin abschieben. Syrische Aktivisten organisieren Widerstand – und nebenbei sich selbst

Deutschlands Innenminister machen mobil. Nach Recherchen der Welt am Sonntag prüfen mehrere unionsgeführte Bundesländer, wie sie syrische Gefährder so schnell wie möglich abschieben können, darunter Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen und Schleswig-Holstein. Zum 1. Januar ist der Abschiebestopp nach Syrien ausgelaufen, nachdem sich die CDU-Minister bei der Innenministerkonferenz im Dezember geweigert hatten, einer weiteren Verlängerung zuzustimmen. Sie begründeten ihre Entscheidung damit, dass es in Syrien inzwischen „sichere Gebiete“ gebe, in die Straftäter und Gefährder zurückgeschickt werden könnten. Diese hätten ihr Gastrecht verwirkt und stellten eine Gefahr für die deutsche Gesellschaft dar.

Für die etwa 800 000 in Deutschland lebenden Syrerinnen und Syrer ist diese Entwicklung ein Schock. Nicht weil sie ein Herz für Schwerverbrecher und Extremisten hätten – viele würden diese gerne so schnell wie möglich loswerden, schließlich werfen sie ein schlechtes Bild auf die syrische Gemeinschaft insgesamt – sondern weil sie wissen, dass es in Syrien keine Sicherheit gibt, und fürchten, über kurz oder lang selbst ausreisen zu müssen.

Die politisch Engagierten betrachten das Ende des Abschiebestopps außerdem als einen fatalen Schritt in Richtung Rehabilitierung des Regimes von Präsident Bashar al-Assad. Denn an wen sollen die Kriminellen in Syrien übergeben werden? An die Sicherheitsdienste, deren ehemalige Mitarbeiter gerade wegen Mord und systematischer Folter vor dem Oberlandesgericht in Koblenz stehen? Möchte Horst Seehofer Kontakt zum obersten Geheimdienstkoordinator Ali Mamluk aufnehmen, der per internationalem Haftbefehl gesucht wird, oder mit seinem Amtskollegen, dem syrischen Innenminister, der wie alle Kabinettsmitglieder auf der Sanktionsliste der EU steht? Am liebsten würden die CDU-Innenpolitiker ihre Auslieferungen wohl über den Libanon und Jordanien abwickeln, die mit dem syrischen Regime zusammenarbeiten. Aber auch das widerspräche dem deutschen Grundgesetz und der europäischen Menschenrechtskonvention.

Mehr als 100 000 Menschen sind seit 2011 in syrischen Haftzentren verschwunden, darunter mehr als 700 Rückkehrer, wie das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) dokumentiert hat. Allein im vergangenen Jahr wurden laut SNHR 89 Syrer nach ihrer Einreise – meist aus dem Libanon – verhaftet oder zum Geheimdienst einbestellt und sind nicht wieder aufgetaucht. Manche von ihnen hatten sich zuvor von Sicherheitsbehörden oder Botschaften bestätigen lassen, dass nichts gegen sie vorliege. Gerade junge Männer müssen immer damit rechnen, zum Militärdienst eingezogen und direkt an die Front nach Idlib geschickt zu werden.

Hinzu kommt, dass abgeschobene Extremisten in Syrien nicht sicher verwahrt wären, sondern von den Geheimdiensten zur Durchsetzung eigener Interessen eingesetzt würden. Das Assad-Regime nutzt Dschihadisten seit Jahren zum eigenen Machterhalt – mal gegen seine Gegner im Inneren, mal gegen Feinde von außen. Assad ist folglich kein Partner im Kampf gegen den Terrorismus, sein Regime ist ein Inkubator des Terrors. Wer die Menschen hierzulande vor den insgesamt 90 Gefährdern mit syrischen Wurzeln schützen möchte, sollte diese lassen, wo sie sind: in deutschen Gefängnissen oder unter Beobachtung deutscher Sicherheitskräfte.

Mobil machen deshalb nicht nur die Innenminister, sondern auch die Syrerinnen und Syrer. Über Wochen protestierten Aktivisten in Berlin, Weimar und andernorts gegen das Ende des Abschiebestopps. Sie berichteten in Online-Veranstaltungen und mit der Kampagne #SyriaNotSafe über die anhaltenden Verbrechen des Assad-Regimes und erklärten unter Verweis auf die Einschätzung des Auswärtigen Amtes, dass ein Willkür- und Überwachungsstaat wie Syrien auch dann nicht sicher sei, wenn weniger Bomben fallen.

Am Ende half alles nichts, den Kampf um den Abschiebestopp haben sie verloren. Dafür sind die Aktivistinnen und Aktivisten an einer anderen Front vorangekommen – sie haben sich bundesweit koordiniert, Verbündete gefunden und gemeinsame Aktionen organisiert. Das Thema Abschiebung hat Syrerinnen und Syrer über ideologische Gräben und gesellschaftlichen Risse hinweg geeint und dadurch gezeigt, welche Möglichkeiten die syrische Diaspora in sich birgt.

Als zweitgrößte migrantische Gemeinschaft in Deutschland haben sie Gewicht. Schon jetzt gibt es Dutzende syrische Vereine und Initiativen, die sich engagieren. Sie organisieren humanitäre Hilfe für ihre Landsleute vor Ort, helfen bei der Integration Geflüchteter, klären interessierte Deutsche über den Konflikt und seine Ursachen auf und sind politisch aktiv bei Themen, die sowohl Deutschland als auch die Syrer betreffen. In acht bis zehn Jahren wird es mehrere Hunderttausend neue deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit syrischen Wurzeln geben. Höchste Zeit, sie nicht mehr nur als hilfsbedürftige Opfer oder bedrohliche Täter zu sehen, sondern ihr Potenzial als aktive Mitglieder dieser Gesellschaft freizusetzen.

Die Politik zeigt sich dafür offen. Das Thema syrische Diaspora ist in aller Munde – nicht zuletzt, weil die Bundesregierung und ihre europäischen Partner im Konflikt selbst kaum Handlungsoptionen haben. Ohne Einfluss auf die Lage in Syrien konzentriert man sich auf die Exil-Gemeinde. Ministerien und Institutionen, Think Tanks und Nichtregierungsorganisationen suchen Ansprechpartner, syrische Vereine wünschen sich Unterstützung. Die Frage ist, wie beide Seiten besser zueinander finden könnten.

Die syrische Diaspora ist kein einheitlicher Block, sondern besteht aus einer Vielzahl an Gruppen mit verschiedenen Identitäten und Interessen. Die Gründe für diese Zersplitterung liegen nach 50 Jahren Diktatur auf der Hand. Generationen von Syrerinnen und Syrern durften weder frei denken noch sich kritisch äußern, sie konnten sich nicht organisieren, waren von Angst gesteuert und zum Gehorsam verdammt. Gesellschaftliche Diskurse haben sie nie erlebt, ein politisches Bewusstsein kaum entwickelt, die Fähigkeit zur differenzierten Debatte, zum sachlichen Kompromiss und zu institutioneller Zusammenarbeit konnten sie erst mit Beginn der Revolution an Orten außerhalb der Kontrolle des Regimes erlernen. Dessen Einfluss reicht jedoch bis ins Exil, und das Misstrauen gegenüber dem anderen sitzt nach zehn Jahren Krieg noch tiefer als zuvor.

Wichtig ist deshalb der innersyrische Dialog, die Verständigung auf grundlegende Prinzipien und das offene und respektvolle Aushandeln von gemeinsamen Zielen. Dafür bräuchte es Unterstützung – damit die Syrer bei Themen, die sie betreffen, besser zusammenarbeiten, mehr Gehör finden und Teil der politischen Szene in Deutschland werden.

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