Über den Gratismut

Was sich querdenkend dünkt, ist vielmehr irregeleiteter Antiautoritarismus

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PICTURE ALLIANCE/PHOTOTHEK | THOMAS IMO
Alternative für Deutschland: Christopher Street Day Parade in Berlin im Juli
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PICTURE ALLIANCE/PHOTOTHEK | THOMAS IMO
Alternative für Deutschland: Christopher Street Day Parade in Berlin im Juli

Über den Gratismut

Was sich querdenkend dünkt, ist vielmehr irregeleiteter Antiautoritarismus

Antiautoritär nannte sich eine außerparlamentarische Opposition in den 1960er Jahren, die sich gegen illegitime Herrschaft in Staat und Parteien, in Universitäten und Kirchen, in Betrieben und Vereinen, nicht zuletzt in Familien und Erziehungseinrichtungen richtete. Da wurde vieles als postfaschistisch überzeichnet, was jedoch Überreste des wilhelminischen und nationalsozialistischen Obrigkeitsstaates waren, und vieles zu Recht in Zweifel gezogen, was sich eine patriarchale Unterwerfung und Entmündigung anmaßte. Die Bundesrepublik Deutschland wurde dadurch unterm Strich zu einer besseren, freieren und gleicheren Gesellschaft, in der sich Autorität durch Überzeugung und Leistung Respekt verschaffen musste und nicht einfach qua Amt, Status oder Einschüchterung da war. Auch bei der friedlichen Revolution 1989 ließ der Ruf „Wir sind das Volk!“ eine über Jahrzehnte angemaßte autoritäre Herrschaft in wenigen Wochen regelrecht zerbröseln.

„Freiheit, Frieden, Demokratie!“ rufen heute sogenannte Querdenker und Reichsbürger bei ihren Aufmärschen, um gegen den vermeintlichen Impfterror, die angebliche Unterdrückung der Meinungsfreiheit und pauschal gegen eine eingebildete Merkel-Diktatur zu protestieren – oft in Happening- und Partystimmung, immer häufiger mit Beleidigungen und Gewalt gegen Sicherheitskräfte, welche die Befolgung der AHA-Regeln sichern und gerichtlich verfügte Verbote durchsetzen wollen.

Keine Freiheitshelden

Dagegen plustern sich viele Demonstranten auf, als stünde ihnen wie in Minsk, Hongkong oder Yangon eine brutale Miliz gegenüber – manche heften sich allen Ernstes einen Judenstern an und vergleichen ihren gratismutigen Widerstand mit Aktionen der Geschwister Scholl. Polizisten anzuspucken, ist wahrlich keine Befreiungstat, sondern versuchte Körperverletzung; wer sich, seinesgleichen und den Rest der Gesellschaft anzustecken bereit ist, ist kein Freiheitsheld, sondern gemeingefährlich.

Was ist da passiert? Der antiautoritäre Gestus und Duktus von ’68 hat sich verselbständigt, und was einmal als Druckmittel der Demokratisierung verstanden wurde, hat sich von jeglicher inhaltlichen Begründung gelöst: Ich protestiere, weil ich dagegen bin (egal, gegen was). Und ich bin, indem ich protestiere. So etwa kann man Ergebnisse erster sozialwissenschaftlicher Analysen von Querdenker-Protesten resümieren.

„Querdenken“, das einmal als couragierte Auflehnung gegen machtgestützte Positionen wie den Konformismus des ungesunden Volksempfindens definiert war, ist zum Aufstand von Wohlstandsbürgern gegen einen „autoritären“ Staat regrediert, der sich solcher Proteste kaum zu erwehren weiß und dessen Sicherheitsorgane oftmals dastehen wie hilflose Trottel. In Ostdeutschland wird das sogar als Reenactment der friedlichen Revolution inszeniert; das hohle Pathos der „Wende 2.0“ setzt die demokratisch gewählte Bundesregierung mit dem SED-Regime und die Polizei mit der Stasi gleich. Auch westdeutsche Protestakteure agieren in dem Hochgefühl, als missachtete und verfolgte Minderheit „Geschichte zu machen“ und Mut zu zeigen, während der „Mainstream“ schläft, kuscht, sich unterkriegen lässt.

Bunt mit etwas Braun

Schaut man die soziale Zusammensetzung der oft mehrere Tausend Protestteilnehmerinnen an, dann erblickt man soziologisch – den Mainstream: Überwiegend formal gebildete und wohlsituierte Bürger beiderlei Geschlechts um die 50 Jahre, darunter viele Selbständige, die immer schon gegen „zu viel Staat“ waren. Eine andere Fraktion steht ganzheitlichen, spirituellen und anthroposophischen Ideen nahe, wie man sie aus der Frühzeit der Grünen vor allem in Süddeutschland kennt. Und eben „bekennende“ Ostdeutsche, die sich um ihre Wende betrogen wähnen.

Querdenker sind die deutsche Variante im populistischen Spektrum, die sich so missachtet fühlen wie Trump-Wähler, Gelbwesten und Brexit-Befürworterinnen – und meist nicht sagen können, worin der Betrug der Oberen eigentlich bestehen soll. Es verbindet sie eine rabiate Gesinnungsethik, die rücksichtlos auf eigener „Freiheit“ besteht, auch wenn doch klar sein dürfte, dass die bewusste Ablehnung sämtlicher Hygiene-Empfehlungen und totale Impfverweigerung sich für andere, gerade schwächere Mitbürgerinnen katastrophal auswirken kann. In dieser Social-Media-gestützten Realitätsverleugnung und unmaskierten Wissenschaftsfeindlichkeit (vor allem gegen die „Schulmedizin“) tobt sich ein romantischer Reflex gegen die bürgerliche Moderne aus, der analog den menschengemachten Klimawandel leugnet und als seriöse Gegenexpertise getarnten Verschwörungstheorien Raum gibt.

Populistisch-reaktionärer Eklektizismus

Solche Verschwörungstheorien kippen leicht wieder in Judenhass ab. Das führt zur Frage, wie Querdenker politisch einzuordnen sind. Wie andere außerparlamentarische Protestbewegungen der vergangenen Jahre, darunter der frühen Grünen, lehnen die meisten eine Verortung auf der Rechts-Links-Skala ab und teilen auch nicht die klassischen Topoi der völkischen Rechten: Migrations- und Islamfeindlichkeit, Führung durch weiße strongmen, Anti-Globalismus. Das unterscheidet sie von Pegida- und AfD-Aktivisten, Reichsbürgern und Neonazis, die nun aber aus der neuen Fundamentalopposition und Demokratieverdrossenheit Kapital schlagen. Unter Querdenkern findet man erstaunlich viele frühere Grünen-Wählerinnen und Leute, die bei Bürgerinitiativen vom Typus Stuttgart 21 dabei waren und sich eigenen Bekundungen zufolge entweder gar nicht mehr repräsentiert fühlen oder als Protestwähler unterwegs sind zur AfD und Kleinstparteien wie „Die Basis“.

„Querdenken“, manipuliert von eitlen Selbstdarstellern wie Michael Ballweg, Großmaul-Verlegern wie Anselm Lenz oder notorischen Konspirationisten wie Ken Jebsen, ist keine per se rechtsgerichtete Weltanschauung; aber in der nicht zuletzt durch die Pandemie verstärkten Legitimationskrise des politischen Systems bietet es sich als Durchlauferhitzer in die radikale Rechte an, deren Bewegungsunternehmer die aufgesetzte Widerstandspose bestärken: Wir gegen das Establishment. Im Frankreich der 1930er Jahre ist schon einmal eine Bewegung der „Non-Konformisten“ als Tiger gestartet und als Bettvorleger der Faschisten und Kollaborateure geendet.

Querdenker sind dabei, wie zuletzt ihr Auftritt in Berlin gezeigt hat, zunehmend bereit zur Anwendung von Gewalt, die sie als Notwehr und zivilen Ungehorsam deklarieren. Das schließt eine wachsende Militanz gegen Reporterinnen der „Lügenpresse“ ein. Das zum Ritual erstarrte, pseudokritische Querdenken ist Ausdruck der Entfremdung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung von der repräsentativen Demokratie und zutiefst destruktiv. Dass die Boulevardpresse das mit reißerischen Schlagzeilen und einträglicher Dramatisierung befeuert, war zu erwarten. Dass auch Kanzlerkandidaten aus Angst vor wild gewordenen Querulanten herumlavieren, ist zutiefst bedauerlich.

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