Verheddert

Editorial des Verlegers

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Verheddert

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

wie wohl überall in Deutschland liefen in der Redaktion bei uns in den vergangenen Tagen die Diskussionen heiß über die Union und die K-Frage, ganz gleich ob jemand Armin Laschet oder Markus Söder für geeigneter hielt.

Es geht offensichtlich längst um mehr als nur den Kanzlerkandidaten, es geht um den Prozess als solchen, die Verfassung der Unionsparteien als solche, das politische Erbe der Bundeskanzlerin.

Für diese Ausgabe des Hauptstadtbriefs am Samstag kommentiert das Geschehen und Geschacher der Herausgeber Ulrich Deppendorf – in kristallklarer Schärfe und in eben jener Sorge um den demokratischen Prozess, der über einzelne Parteien und ihre jeweiligen Turbulenzen hinausgeht.

In den vergangenen Wochen habe ich eine ganze Reihe von ausgesprochen meinungsstarken und sendebewussten Beiträgen in den Feuilletons gelesen, in denen, sicher unter anderen Vorzeichen als damals, eine Neuauflage des berühmten Historikerstreits 1986 ff., in dessen Zentrum Ernst Nolte und Jürgen Habermas standen, aufzuflammen schien. Im Zeichen der neu diskutierten Fragen mit Blick auf die kolonialistische Vergangenheit europäischer Länder haben Historiker:innen Michael Rothbergs Konzept einer „multidirektionalen Erinnerung“ und die Vorstellung der Singularität des Holocausts als eine Art deutschen „Provinzialismus“ kritisiert. Keine Frage, die Positionen sind nicht so ideologisch-historisch verhärtet wie in den 1980er-Jahren und dürften, mit etwas Wohlwollen und dem Verzicht auf feindselige Unterstellungen, auch prinzipiell so unterschiedlich nicht sein.

Aber als ich den jüngsten Beitrag von Andrea Löw, der erstklassigen historischen Korrespondentin des Hauptstadtbriefs las, wurde mir erst bewusst, wie sehr sich die Zunft in theoretischen Konzepten verheddert hat – und welchen ungleich wertvolleren Erkenntnisgewinn die originär historische Betrachtung hat. Löw, stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München, bringt dagegen Menschen zum Sprechen, die sich diese Fragen unter schrecklichsten Bedingungen gestellt haben, ja stellen mussten.

Die Lektüre – oder das Nachhören, den Beitrag gibt es auch als Audioversion auf derhauptstadtbrief.de – kann einen mitnehmen, ich könnte sie Ihnen aber dringender nicht ans Herz legen.

Unsere Kolumnistin Anne Wizorek schreibt in ihrer Direktnachricht über sexualisierte Gewalt und weist auf einige überaus drängende Rechtsfragen und Sachverhalte hin.

Ich bin immer wieder verblüfft, mit welcher Präzision in der Sache und Eleganz in der Form Wizorek all jene kaum zu Ende gedachten Ausweichmanöver und Beschwichtigungsformeln nach allen Regeln der Kunst auseinandernimmt und die Debatte auf ihren Wesenskern zurückführt.

Überaus lesenswert ist in diesem Zusammenhang auch noch einmal das Interview, das sie mit Christina Clemm im Hauptstadtbrief in diesem Jahr geführt hat.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich – bis morgen

Ihr Detlef Prinz

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