Wahlen nach Zwischenzahlen

Kolumne | Aus dem Bannaskreis

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Wahlen nach Zwischenzahlen

Kolumne | Aus dem Bannaskreis

Der erste Entwurf von SPD, Grünen und FDP zur Verkleinerung des Bundestages war eine saubere Sache: Maximal 598 Abgeordnete statt 736, wie bisher 299 Wahlkreise. Eine Partei, die mehr als drei Wahlkreise gewinnt, sei weiterhin vom Fünf-Prozent-Erfordernis freigestellt. Um die Zahl der Abgeordneten konstant zu halten, war etwas Neues vorgesehen: Wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als es das Zweitstimmenergebnis hergibt, sollten die „Wahlkreissieger“ mit den schlechtesten Ergebnissen leer ausgehen. Es gab eine Expertenanhörung, und wie es bei solchen Anhörungen so ist: Die einen sagten dies, die anderen sagten das. Die CSU moserte, weil sie bisher regelmäßig mehr Wahlkreise gewann, als ihr nach dem prozentualen Abschneiden zustanden. Warum auch nicht? Hatte ein Kandidat seinen Wahlkreis wirklich gewonnen, wenn er das mit – zum Beispiel – 25 Prozent geschafft hatte? Doch alle Parteien waren gleichermaßen betroffen. Alle Fraktionen würden kleiner als bisher sein.

Alsbald aber merkten Parlamentarier von SPD und FDP, dass sie demnächst nicht mehr im Bundestag säßen. Sie konstruierten Argumente: Weniger Abgeordnete hieße mehr Arbeit für die Verbleibenden, und schon jetzt gebe es zu viel Arbeit. Sozialdemokraten aus Nordrhein-Westfalen und Brandenburg bearbeiteten ihren Fraktionschef Rolf Mützenich. Die Obergrenze wurde auf 630 erhöht, was auch ein Zugeständnis an die Unionsfraktion schien, weil das Risiko gemindert wurde, Wahlkreissieger könnten leer ausgehen. Die Regel, das Gewinnen von drei Wahlkreisen befreie von der Fünf-Prozent-Hürde, wurde abgeschafft. Vor allem die Linkspartei schien betroffen, weil sie künftig wohl nicht mehr im Bundestag vertreten wäre. Manche meinten, das sei zwar schade um Dietmar Bartsch, nicht aber um Sahra Wagenknecht. Und außerdem kämen künftig die Mandate der Linkspartei den anderen Fraktionen zugute. Lautstark war der Streit. Ziemlich spät erst registrierte die CSU, dass die Neuregelung auch ihr Ausscheiden aus dem Bundestag nach sich ziehen könnte – dann nämlich, wenn sie zwar alle Wahlkreise gewonnen hätte, bundesweit aber unter fünf Prozent geblieben wäre. 2021 waren es 5,2 Prozent. Aber Mehrheit war Mehrheit: SPD, Grüne und FDP setzten geschlossen die Verschlimmbesserung durch. Erstmals wurde ein Wahlgesetz verabschiedet, das erkennbar gegen die Interessen zweier Parteien verstößt: Das Ausscheiden der CSU ist möglich, das der Linkspartei ist vorprogrammiert.

Ob SPD und FDP vergaßen, was ihnen einst geblüht hatte? Mitte der 1950er-Jahre beabsichtigte die Adenauer-CDU, das sogenannte Grabenwahlrecht zu installieren. Alle Wahlkreisgewinner sollten in den Bundestag kommen, und dazu die gleiche Zahl von Abgeordneten nach der Zweitstimme. Die Union wollte damit ihre Mehrheit in Bonn zementieren. In Düsseldorf ließ die FDP die CDU/FDP-Landesregierung platzen. Auch Adenauers Regierung kam in schweres Wasser – und beerdigte das Vorhaben. 1966 dann verabredeten Union und SPD bei Bildung ihrer großen Koalition, das Mehrheitswahlrecht einzuführen. Es hätte das Aus der FDP bedeutet. Erst spät zog die SPD ihre Zusage zurück. Sie wurde belohnt. 1969 koalierte Willy Brandt mit der FDP. Übrigens: In der CDU-Führung war es allein Helmut Kohl, der das Mehrheitswahlrecht ablehnte. 1982 bildete er eine Koalition mit der FDP. Tempi passati.

Mindestens Ungereimtheiten bleiben. Zum Beispiel jene, dass parteiunabhängige Kandidaten gegenüber Parteikandidaten bevorzugt werden. Unabhängige Bewerber, die in ihrem Wahlkreis am besten abschneiden, kämen auf jeden Fall in den Bundestag, Wahlkreissieger von Parteien jedoch nur dann, wenn ihre Partei die Fünf-Prozent-Hürde gemeistert hat. Das mag nicht sonderlich praxisrelevant sein. Und Parteilose können ja auch bevorzugt werden, weil sie ohne den Rückhalt einer Großorganisation auskommen müssen. Doch eine Ungleichbehandlung bleibt.

Ein Pyrrhussieg der Koalition? Nichts ist gewiss, wenn sich Karlsruhe mit Sonderheiten des Wahlrechts befasst, auch wenn diese praxisferner Natur scheinen. Das negative Stimmgewicht war so ein Fall – eine Stimme für Partei A schadet genau dieser und nutzt der Partei B. Mathematiker hatten dieses Phänomen errechnet, das bei der Zuteilung und Verrechnung von Bundestagsmandaten vorkommen kann. Für taktische Wähler aber setzt es voraus, den exakten Ausgang der Wahl zu kennen – bei Stimmabgabe. Ein einziges Mal passierte das: 2005, als in Dresden wegen des Todes eines Direktkandidaten erst zwei Wochen nach der eigentlichen Bundestagswahl gewählt wurde. Gleichwohl: 2008 entschied das Bundesverfassungsgericht, das negative Stimmgewicht sei nicht mit der Gleichheit der Wahl vereinbar. Seither befassen sich die Spezialisten der Fraktionen alle Jahre wieder mit Wahlrechtsfragen.

Nun hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu prüfen, ob er das von den Koalitionsfraktionen geschlossen verabschiedete Gesetz ausfertigen will. Wird er den Kelch nach Karlsruhe weiterreichen? Auch auf die Richter dort kommt eine Zumutung zu.

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