Wahrheiten

Postskriptum

13
03
13
03

Wahrheiten

Postskriptum

Masha Gessen dürfte wie kaum eine andere Person in der Lage sein, über die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit in Russland in diesen Tagen zu berichten.

Gessen lebte mehr als zwanzig Jahre in Moskau, übernahm 2012 die Leitung von Radio Liberty in der russischen Hauptstadt – der Sender musste in diesen Tagen den schon seit Jahren beeinträchtigten Sendebetrieb endgültig einstellen –, kehrte 2013 in die USA zurück, schrieb eine hellsichtige Biographie Wladimir Putins und veröffentlichte herausragende Essays im New Yorker über den vulgärkonservativen Trump-Kult in Amerika und die totalitären Tendenzen des Kreml-Herrschers.

Mit Verschärfung der „Ukraine-Krise“ ging Gessen zurück nach Moskau, um vor Ort zu berichten, in einer Mischung aus Reportage, soziologischer Grundierung und – im besten Sinne – Geschichts­philosophie. Das Bild, das Gessen von Russland in dieser Stunde zeichnet, erscheint, in einem Wort, düster.

Gessen beschreibt, dass der Ukraine-Krieg in Russland öffentlich kaum vorkommt, ja, dass es ihn, da es sich vermeintlich um bloße „Spezialoperationen“ handelt, gar nicht wirklich gebe. Der Anteil der Menschen in Russland älter als 45 ist größer als derjenige zwischen 15 und 44 – und deren Bild der Wirklichkeit werde beinahe ausschließlich vom staatlichen Fernsehen geprägt. Aber auch wer sich über die letzten verbliebenen unabhängigen Medien zu informieren versuche, sofern deren Seiten überhaupt noch erreichbar sind, werde mit dem vorgeschriebenen Hinweis konfrontiert, dass es sich um Berichte von „ausländischen Agenten“ handle. Die Worte „Krieg“, „Aggression“ und „Invasion“ sind verboten, wer „Falschinformationen“ über den Konflikt verbreitet, muss seit einem Duma-Beschluss vergangene Woche mit bis zu 15 Jahren Haft rechnen.

Die staatstreuen Medien sprechen allen Ernstes von einer „Friedensmission“ – eine Art der Vernebelung der Wirklichkeit, die Gessen weniger an Orwellschen Neusprech erinnere als vielmehr an jene nationalsozialistische Sprache, die Victor Klemperer in der Lingua Tertii Imperii analysierte.

Klemperer hatte seinem „Notizbuch eines Philologen“ den Satz Franz Rosenzweigs vorangestellt: „Sprache ist mehr als Blut.“

*Eine ältere Fassung dieses Textes verwendete auf Gessen bezogene unzutreffende Pronomina. Im Englischen verwendet Gessen „they/them“. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Weitere Artikel dieser Ausgabe