Wann wird es mal wieder richtig Programmparteien-Sommer?

Schuld daran hat eben nicht nur die SPD. Aber ihr Potential schöpft die Partei auch nicht gerade aus

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PICTURE-ALLIANCE / DPA | WOLFGANG WEIHS
Sommer, Sonne und SPD-Wahlsiege (Bundesrepublikanisches Stillleben, spätes 20. Jahrhundert).
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PICTURE-ALLIANCE / DPA | WOLFGANG WEIHS
Sommer, Sonne und SPD-Wahlsiege (Bundesrepublikanisches Stillleben, spätes 20. Jahrhundert).

Wann wird es mal wieder richtig Programmparteien-Sommer?

Schuld daran hat eben nicht nur die SPD. Aber ihr Potential schöpft die Partei auch nicht gerade aus

In einem Mehrparteiensystem herrscht Platznot, vor allem in dessen Mitte.

Das war im Parteiensystem, das die alte Bundesrepublik bis Ende der 1970er-Jahre prägte, noch deutlich anders. Damals entschied die FDP als sogenannte Funktionspartei, ob die Union oder die SPD die Bundesregierung anführen durfte. Die darin zum Ausdruck kommende Wirkmacht der FDP, die weit über ihren elektoralen Rückhalt hinausging, änderte sich bekanntlich mit dem Auftreten der Grünen und vor allem mit den parteipolitischen Folgen der Deutschen Einheit.

Jahrzehnte später weist die SPD Hinweise auf die Gründungs- und Erfolgsbedingungen ihrer politischen Konkurrenten („Fleisch vom Fleische“) wohl nicht nur aus Höflichkeit gegenüber den längst etablierten Wettbewerbern zurück. Vielmehr dürfte die SPD bis heute der Umstand schmerzen, dass die beiden Hauptkonkurrenten der SPD ausgerechnet während der Amtszeit erfolgreicher sozialdemokratischer Kanzler vor allem in zuvor SPD-affinen Milieus auf Anklang stießen.

Die Grünen, die anfänglich auch im gemäßigten „bürgerlichen“ Milieu wurzelten, schlossen mit ihren radikalen ökologischen und pazifistischen Forderungen seit der Europawahl 1979 programmatische Lücken der SPD. Auch die Gründung der Partei Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative (WASG) 2004/2005 und deren spätere Vereinigung mit der PDS zur Partei Die Linke 2007 stellte vor allem eine Reaktion auf die Politik der damaligen rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder und deren als einschneidend, ungerecht und „neoliberal“ wahrgenommenen „Hartz-IV“-Reformen dar.

Die Erfolge der AfD, die im Unterschied dazu vor allem auf das Konto von CDU und CSU sowie deren politische Fehler und Versäumnisse gehen, stellten endgültig die Anpassungsfähigkeit des bundesdeutschen Parteiensystems unter Beweis. Seit 2013 arbeiten nicht nur der Bundestag, sondern immerhin 7 von 16 Landesparlamenten als Sechsfraktionenparlamente, lediglich in 3 deutschen Landtagen organisieren sich die Abgeordneten in bloß vier Fraktionen. Die Zerrissenheit und geringe Professionalität der AfD haben außerdem zur Folge, dass im Bundestag sowie in 12 Landtagen meist mehrere fraktionslose Abgeordnete sitzen.

Diese Veränderungen im Wahlverhalten und die neuen parlamentarischen Verhältnisse beeinflussen die Wettbewerbsbedingungen aller relevanten deutschen Parteien. Die SPD trifft die wachsende Konkurrenz und die damit verbundene Fragmentierung des Parteiensystems aus den genannten Gründen aber besonders hart. Ihr dürfte die Prognose der Wahlforschung, statt zweier großer Volksparteien werde es in Zukunft neben einigen kleinen Parteien mehrere fast gleichstarke Parteien geben, die engere Milieus ansprechen, seit geraumer Zeit als geradezu optimistisches Szenario erscheinen. Schließlich könnte dies doch immerhin bedeuten, dass sich die Partei im Bund stimmen- und mandatsmäßig auf „Augenhöhe“ mit der Union und den Grünen wähnen darf.

An Analysen über die Ursachen für den Bedeutungsverlust der Sozialdemokratie fehlt es schon seit Jahren ebenso wenig wie an Aufbruchsappellen der jeweiligen Bundes- und Landesvorsitzenden, mit welchen Maßnahmen und vor allem Schlagwörtern das strukturelle Dauertief überwunden werden könnte. Fest steht, dass sich das Erscheinungsbild der westlichen Gesellschaften in Folge von Globalisierung, Bildungsexpansion, technologischem und kulturellem Wandel massiv verändert hat. Spätestens mit der Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 trat zur tradierten sozioökonomischen Konfliktlinie dann eine weitere hinzu, die kulturell-identitätspolitisch bestimmt ist. Sie verläuft unabhängig von der ersten und sogar mitten durch die beiden Volksparteien und macht es den meisten Wählern unmöglich, die widersprüchlichen eigenen Präferenzen – etwa den Wunsch nach einem intervenierenden Sozialstaat einerseits und begrenzender Zuwanderungspolitik andererseits – in klare und dauerhafte Parteiloyalität münden zu lassen.

Das Dilemma von Volksparteien in Regierungsverantwortung besteht darin, dass ihre auf Dogmenverzicht beruhende Fähigkeit zur Kompromissfindung die Bildung von Koalitionen einerseits überhaupt erst ermöglicht und so auch das Geschäft des Regierens erleichtert. Andererseits führen die Auflösung der traditionellen sozialen Milieus und die demografische Entwicklung dazu, dass ihre jeweiligen Stammwählerschaften immer stärker schrumpfen. Das bewährte Erfolgsmodell der Volksparteien, ihre Mobilisierungskraft bei der Wählerschaft mit programmatischer Anschlussfähigkeit auf parlamentarischer Ebene zu kombinieren, funktioniert also eher schlecht als recht. Stattdessen wird die auf programmatischer Mäßigung beruhende Integrationsfähigkeit der Volksparteien von dem Teil der Wählerschaft immer weniger nachgefragt, der – bestärkt durch die Gesetzmäßigkeiten der digitalen Netzwerke – nach dem Besonderen und Nicht-Austauschbaren strebt.

Die Auswirkungen dieser Phänomene auf den Ausgang von Wahlen treffen die SPD noch stärker als die Union. Die sozialdemokratische Selbstverpflichtung auf das Gemeinwohl und die damit verbundene Anpassungs- und Leidensbereitschaft ändern nämlich nichts daran, dass die Programmatik für das Selbstverständnis und den inneren Zusammenhalt der Partei und die Durchsetzungsfähigkeit ihres Führungspersonals zentral ist.

Ob es der SPD vor diesem Hintergrund gelingen kann, angesichts einer medial geschürten grünen Aufbruchsstimmung in einem scheinbar amtsbonusbefreiten Wahlkampf wie erhofft mit dem Pfund der Regierungs- und Krisenerfahrung zu punkten, ist noch offen. Für eine Partei, die auch unter besseren Bedingungen zu zerstörerischen Selbstzweifeln neigt, ist das eine besorgniserregende Ausgangsbasis. Aufmuntern könnte die Diagnose, dass die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen den Daseinszweck einer sozialdemokratischen Volkspartei – eigentlich – offenkundig machen.

Im Zuge der Pandemiefolgenbewältigung wird sich die Frage nach einer „Renaissance des Allgemeinen“ (Andreas Reckwitz) intensiver denn je stellen. Eine die unterschiedlichen Singularitäten „ausgleichende“ Politik, die soziale und kulturelle Teilhabe mit der steigenden Nachfrage nach der Absicherung von Lebensrisiken ohne Ausgrenzung von Personengruppen oder Diskriminierung künftiger Generationen verbindet, ist kein Auslaufmodell. Die Nachfrage nach einer inhaltsstarken neuen Ausprägung von „Funktionspartei“ ist also vorhanden. Ob sie durch eine zur Nabelschau und Schubladendenken neigenden Konzentration auf die Befindlichkeiten meinungs- und durchsetzungsstarker Grüppchen befriedigt werden kann, ist eine andere Frage.

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