Was wollt Ihr?

Beim Antisemitismus kann es keine zwei Seiten geben. Ein Aufschrei angesichts von Gewalt und Hass

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PICTURE ALLIANCE/DPA | MICHAEL KAPPELER
Leider nur der seltenere Fall: Solidaritätsbekundung mit Israel in Berlin diese Woche
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PICTURE ALLIANCE/DPA | MICHAEL KAPPELER
Leider nur der seltenere Fall: Solidaritätsbekundung mit Israel in Berlin diese Woche

Was wollt Ihr?

Beim Antisemitismus kann es keine zwei Seiten geben. Ein Aufschrei angesichts von Gewalt und Hass

Selten war so viel Hass zu erleben wie in den vergangenen Tagen. Als die Terrororganisation Hamas vor zwei Wochen begonnen hatte, Israel flächendeckend mit Raketen zu beschießen, trieb es Menschen in den Hauptstädten Europas auf die Straßen. Leider kaum, um dem angegriffenen Land beizustehen. Sehr oft jedoch, um seine Vernichtung zu fordern. Die sozialen Medien quellen über vor antiisraelischer Propaganda. Und die Unterscheidung, ob eine Äußerung antiisraelisch oder antisemitisch ist, verkommt zusehends zur akademischen Spitzfindigkeit, ja, sie erübrigt sich fast schon.

Die Realität sieht so aus: Schmierereien an israelischen Botschaften, Synagogen, jüdischen Gemeindezentren, Friedhöfen und Gedenkstätten in zahlreichen europäischen Ländern und vielfach in Deutschland. Beliebtes Motiv dabei auch das Hakenkreuz. Vandalismus, Steinwürfe, Verbrennung israelischer Flaggen, massenhafte Beleidigungen und Bedrohungen jüdischer Menschen und mittlerweile auch schon gehäuft körperliche Übergriffe auf Menschen, die man glaubt, als Juden identifizieren zu können.

Obwohl die offizielle Definition des Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) sehr vorsichtig formuliert ist, fällt die Einordnung leicht: Die angeblich pro-palästinensischen Demonstrationen sind zu einem großen Teil erst einmal antisemitische Aufmärsche. Die Unterscheidung zwischen Juden und Israel ist längst aufgelöst. Holocaust-Leugnung und Verherrlichung zählen zum selbstverständlichen Repertoire. Der frenetische Tonfall und der blanke Hass der aufgestachelten Pulks lassen selbst Unbeteiligte schaudern. Doch kann man in dieser Frage überhaupt „unbeteiligt“ sein? Ich denke nicht.

Ich kann auch das Gerede nicht mehr hören, dass „beide Seiten“ einlenken müssten. Beim Antisemitismus kann es keine zwei Seiten geben. Ja, es kann nicht einmal Neutralität geben. Wer die Hintergründe der „pro-palästinensischen“ Demonstrationen ignoriert, wer den Antisemitismus nicht sehen will, der macht sich zum Komplizen.

Der große Teil der Demonstrierenden hat einen Migrationshintergrund. Oft sind es junge Männer. Wer ihnen wohlgesinnt ist, verweist gerne auf die mangelnde Integration dieser Menschen. Das mag eine Erklärung sein, eine Entschuldigung ist es nicht. Zur Integration gehört auch die vielzitierte deutsche Staatsräson, und ich bin neben anderen Politikerinnen und Politikern insbesondere Cem Özdemir dankbar, der es am klarsten formuliert hat: „Wer in diesem Land leben möchte, muss sich zum Existenzrecht Israels bekennen.“

„Aber die Israelis …“. Ich schalte ab, wenn jemand einen Satz so anfängt. Es nervt nur noch. Eine Million Deutsche sind plötzlich Nahost-Experten. Haben weder Israel noch eines der Nachbarländer je gesehen. Kennen weder die Geschichte noch die agierenden politischen Kräfte der Region. „Die Siedlungspolitik der Israelis …“. Shut up! Was weißt du? Was willst du? Mit der ersten Nachfrage nach Details zur komplexen Lage vor Ort stellen sich sämtliche selbsternannte Experten als komplett ahnungslos heraus. Soll ich dir sagen, woran der aktuelle Konflikt hochgezogen wurde? An einem Mietrechtsstreit. Ein paar Leute haben sich koordiniert und ihre Miete einfach nicht mehr bezahlt. Die Vermieter haben auf Räumung geklagt. Die Hamas-Propaganda macht daraus Vertreibung. Eine Inszenierung von Anfang an.

Aber gut, reden wir über Vertreibung. Als die Vereinten Nationen 1947 die Schaffung eines israelischen und eines arabischen Palästinas beschlossen und sich im Jahr darauf der Staat Israel gründete, wurde er noch in der Nacht seiner Gründung von allen arabischen Nachbarstaaten und weiteren arabischen Ländern überfallen. Israel hat seinen Unabhängigkeitskrieg gewonnen. Aber der Krieg führte zu Vertreibung und Evakuierung in beide Richtungen. Jeweils rund 850 000 arabische Palästinenser verließen das israelische Territorium, Juden in gleicher Zahl mussten aus den arabischen Ländern nach Israel flüchten. Und dennoch: In Israel leben heute rund 20 Prozent arabische Israelis. Sie sind im Parlament, der Regierung, in den Universitäten, in der Armee und im obersten Gericht vertreten.

Die Zahl der palästinensischen Flüchtlinge ist im Laufe der Zeit deutlich angestiegen. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNRAW) wurde 1950 als vorübergehendes Hilfsprogramm gegründet, um sich um 500 000 offiziell registrierte Flüchtlinge zu kümmern.

Heute zählt man 5,7 Millionen Flüchtlinge. Der Status als Flüchtling ist – in väterlicher Linie – vererbbar. Man muss gar nicht selbst geflüchtet sein. Rund zwei Millionen „Flüchtlinge“ leben im Gaza-Streifen. Die Bevölkerung dort verdoppelt sich alle 20 Jahre, die Hälfte ist jünger als 15 Jahre. Sie sind Enkel und Urenkel von Menschen, die – möglicherweise – einmal geflüchtet sind oder evakuiert wurden. Was es in Gaza nicht gibt, sind Juden. Gaza ist „judenfrei“. Und auch Christen gibt es gerade noch rund eintausend, das macht ungefähr 0,5 Promille der Bevölkerung. Gaza ist nahezu „ethnisch rein“.

Wer fahnenschwenkend durch Berlin zieht und „Free Palestine!“ skandiert, der sollte sich nochmals überlegen, welches Gesellschaftsmodell er dabei eigentlich propagiert. Gaza ist der Prototyp des „Islamischen Staates“. Seit dem Putsch der Terrororganisation Hamas 2006 gab es keine Wahlen mehr. In den Gefängnissen wird gefoltert, an den Schulen wird – nach Geschlechtern getrennt – indoktriniert. Und immer im Mittelpunkt: Die Vernichtung Israels und der Juden, das offizielle Ziel der Hamas. Schon kleine Kinder werden zum Terrorismus erzogen. In Gaza ist Antisemitismus Staatsräson. Hier liegt das eigentliche Drama. Es gibt kein positives politisches Ziel, es gibt keine konstruktive Vorstellung davon, wie ein gemeinsames Miteinander aussehen könnte.

Der Antisemitismus der Hamas geht aber auch zu Lasten der Palästinenser selbst. Siebzig Prozent der Bevölkerung in Gaza hat nicht genug Geld für Lebensmittel, fast die Hälfte der Bevölkerung wird über das UNRAW ernährt, finanziert von Spendengeldern und insbesondere auch vom deutschen Staat. Währenddessen sitzt die Hamas auf einem Arsenal von noch mindestens 15 000 Raketen, fast zwei Wochen wurden täglich hunderte bis tausende auf beliebige Ziele in Israel abgefeuert.

Alle, die jetzt gegen Israel demonstrieren, muss man fragen: Was wollt ihr? „Free Palestine“? Fangt in Gaza an. Befreit die Menschen dort von den fanatischen antisemitischen Terroristen, den Unterdrückern und Broträubern, anstatt ihnen noch das Etikett der Freiheitskämpfer anzudichten.

Noch einmal: Was wollt ihr? Was sollte Israel denn tun? Welche Zugeständnisse sollte Israel einem Feind machen, der seine Vernichtung fordert? Wie hätte Israel auf den täglichen Beschuss mit hunderten von Raketen reagieren sollen? Und was wollt ihr von den Juden in Bonn, Düsseldorf oder München, die sich aus der gleichen geografischen Entfernung wie ihr nichts sehnlicher wünschen als Frieden und eine dauerhafte Sicherheit für Israel?

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