Wer arm ist, muss eher sterben

Offenbarungseid: Die sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie

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SHUTTERSTOCK/CRYPTOGRAPHER
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Wer arm ist, muss eher sterben

Offenbarungseid: Die sozialen Folgen der Covid-19-Pandemie

Seuchen haben in der Vergangenheit oftmals zur Verringerung der Ungleichheit beigetragen, wenn auch meistens nur für kurze Zeit. Dies attestiert man etwa der mittelalterlichen Pest, die unzählige Menschen dahinraffte. Während die Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise wegen ausbleibender Käufer sanken, stiegen nämlich wegen fehlender Arbeitskräfte die Löhne. Anders verhielt es sich bei Cholera, Typhus und Tuberkulose, den bakteriell ausgelösten Epidemien des 19. Jahrhunderts. Davon wurden Menschen am stärksten getroffen, deren Arbeitsbedingungen hundsmiserabel und/oder deren Wohnverhältnisse hygienisch bedenklich waren.

Bei dem neuartigen, als SARS-CoV-2 bezeichneten Coronavirus erhöhen problematische Arbeitsbedingungen und beengte Wohnverhältnisse ebenfalls das Infektionsrisiko. Wie die Cholera hat Corona besonders Immun- und Einkommensschwache heimgesucht, zu denen Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner von Gemeinschaftsunterkünften, etwa Gefangene und Geflüchtete sowie ausländische Werkvertragsarbeiter deutscher Großschlachtereien und Saisonarbeiter in der Landwirtschaft, gehören. Bisher galt wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die in Deutschland rund zehn Jahre unter der von Reichen liegt, die zynische Faustregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Seit der Coronapandemie gilt dies in einer leicht modifizierten Fassung, die lautet: Wer arm ist, muss eher sterben.

SARS-CoV-2 hat die hierzulande existierende Ungleichheit in den vergangenen Monaten nicht bloß schlaglichtartig beleuchtet, sondern im Zusammenspiel mit dem Lockdown, der ihm folgenden Rezession und den staatlichen Hilfspaketen auf manchen Gebieten noch vorangetrieben. Das betrifft sowohl die Einkommens- und Vermögensverteilung wie auch den Bildungs-, den Gesundheits- und den Wohnbereich.

Schon vor der Pandemie besaßen 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung, also über 40 Millionen Menschen. 67 Prozent des Nettogesamtvermögens entfielen auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrierten sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung, und das reichste Promille kam immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Den Gini-Koeffizienten bezifferte das in Verteilungsfragen renommierteste Institut unseres Landes auf 0,83. Dieses nach einem italienischen Mathematiker benannte Ungleichheitsmaß beträgt 0, wenn alle Bewohner das Gleiche besitzen, und erreicht 1, wenn einem alles gehört. Selbst in den USA – nicht gerade Musterbeispiel einer sozialen Marktwirtschaft – liegt der Vergleichswert nur ganz knapp über dem bundesdeutschen.

Zwar brachen die Aktienkurse nach Beginn der Covid-19-Pandemie vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die ohnehin zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Hedgefonds und Finanzinvestoren, die erfolgreich auf fallende Aktienkurse gewettet hatten, profitierten hingegen von den Einbußen der Kleinanleger. Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen bescherten ihnen ebenfalls Gewinne, weil der Trend in Erwartung staatlicher Konjunkturprogramme bald wieder nach oben zeigte.

Obwohl die Schieflage beim Einkommen mit einem Gini-Koeffizienten von 0,29 hierzulande deutlich weniger ausgeprägt war als beim Vermögen, kam ein großer Teil der Bevölkerung während des Lockdowns entgegen allen Beteuerungen, bei der Bundesrepublik handle es sich um eine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte aus.

Unter dem Druck der Einkommensverluste durch Kurzarbeit, Konkurse und Arbeitslosigkeit kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord, Aldi Süd und Lidl, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sein dürften. Schon vorher wurde das Privatvermögen des Eigentümers von Lidl und Kaufland mit 41,5 Milliarden Euro veranschlagt. Auch rutschten mehr Girokonten von Geringverdienern ins Minus, weshalb gerade die ärmsten Kontoinhaber hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten, was die Besitzer von Banken noch reicher machte.

Kita- und Schulschließungen, die in höheren Jahrgangsstufen größtenteils mit einer beschleunigten Digitalisierung des Unterrichts einhergingen, haben die Bildungsungleichheit durch Benachteiligung von Kindern aus finanzschwachen Familien verstärkt. Häufig fehlten ihnen Rückzugsmöglichkeiten, ein Kinderzimmer und geeignete digitale Endgeräte, die nötig gewesen wären, um den Kontakt zur Schule zu halten und gegenüber materiell bessergestellten Klassenkameraden nicht ins Hintertreffen zu geraten. Ähnliches galt beim Homeschooling in Bezug auf die fehlende Hilfestellung durch akademisch gebildete Eltern und mangelnde kulturelle Anregungen.

Seit längerer Zeit bildet die Miet- und Wohnungsfrage in weiten Teilen Deutschlands ein drängendes soziales Problem. Aber nie war die Villa mit parkähnlichem Garten wertvoller als im Lockdown, der sich dort viel leichter ertragen ließ als in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand oder in einer Notunterkunft. Gegenwärtig steigen die Immobilienpreise unbeeindruckt von der pandemiebedingten Rezession, und nicht zufällig sind Einfamilienhäuser gerade heiß begehrt.

Zwar ist unsere Gesellschaft von einem Ungleichheitsvirus befallen, aber SARS-CoV-2 keineswegs für die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich. Schließlich bringt nicht Covid-19 selbst den Polarisierungseffekt hervor, Reichtum auf Kosten der Armen erzeugen vielmehr die bestehenden Wirtschaftsstrukturen. Das neuartige Coronavirus erwies sich nur als Beschleuniger, der diesen Prozess forcierte und die sozialen Gegensätze offenlegte. Folglich ist nicht Covid-19 unsozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die arme Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den ökonomischen Verwerfungen der Pandemie schützt.

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