Wertewandel

Deutsches Trauma: Eine kurze Geschichte der Inflation aus aktuellem Anlass

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PICTURE ALLIANCE/ZB | ANDREAS ENGELHARDT
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PICTURE ALLIANCE/ZB | ANDREAS ENGELHARDT

Wertewandel

Deutsches Trauma: Eine kurze Geschichte der Inflation aus aktuellem Anlass

Früher war der Brotpreis die Maßgabe für das Preisgefühl der Bevölkerung, heute ist es der Benzinpreis: Für jeden Autofahrer ist er ständig aktuell sichtbar an den Preisschildern der Tankstellen. Und wer tankt, tankt meist mehr oder weniger die gleiche Menge – und wundert sich dann über den unterschiedlichen, mittlerweile sogar stündlich sich ändernden Preis, den er dafür zahlen muss.

Die Preise des konjunkturabhängigen Rohstoffs Öl und die von ihm beeinflussten Preise für Gas und Fernwärme sind seit jeher hohen Schwankungen unterworfen. Am Anfang der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 waren die Ölspeicher bestens gefüllt, doch die Nachfrage sackte schlagartig weg. Die Produktion aber ließ sich nicht so schnell stoppen. Der Preis für ein Barrel (Fass mit 159 Liter) Öl fiel auf unter 20 Dollar. Zeitweise zahlten die Produzenten sogar Geld dafür, dass ihnen jemand das Öl abnahm. Sie brauchten Platz.

Im Oktober 2021 aber hatte sich die Lage schon gedreht: Die Unternehmen produzierten wieder, die Menschen flogen und fuhren mit dem Auto. Das Barrel stand wieder bei mehr als 80 Dollar. Allein der Anstieg der Energiepreise sorgte für 1 Prozentpunkt mehr Inflation. Denn die Energiepreise machen 10 Prozent der Ausgaben der deutschen Verbraucher aus, hinzu kommen Multiplikatoreffekte, da Unternehmen ihre höheren Energiekosten an die Konsumenten weitergeben.

Mit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine machten die Preise an den Energiemärkten einen Sprung: Der Preis für Rohöl schnellte sofort über 100 Dollar je Barrel, die Gaspreise explodierten. Geopolitische Krisen oder Kriege wirken als Schock auf die Märkte. Das war schon vor acht Jahren bei der Annexion der Krim so.

Gleichwohl scheint es mit den Energiepreisen ähnlich wie mit der Hyperinflation 1923: Sprunghaft steigende Ölpreise reaktivieren bei den Deutschen ein nationales Trauma, die Ölkrise im Herbst 1973. Damals gab es vier autofreie Sonntage in jenem Wirtschaftswunderland, das sich vor allem durch seine famosen Wagen von Daimler und Co. auszeichnete. Der Totensonntag am 25. November blieb autofrei, ebenso die Sonntage am 2., 9. und 16. Dezember. Die Bilder der leeren Autobahnen sind seither fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses: Statt nobler Karossen und solider Volkswagen bevölkerten Spaziergänger und Fahrradfahrer die Autobahnen, Pferdekutschen rollten durch die Städte, in Nürnberg war gar eine Rikscha unterwegs. Und im grenznahen bayerischen Freilassing schoben Skifahrer ihre Autos über die österreichische Grenze, um dann in bekannter Weise zum Skilift zu brausen. Dass es gleichzeitig an allen anderen Tagen ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen gab, wurde übrigens vom traumatisierten Gedächtnis bis heute völlig verdrängt.

Anlass der Ölkrise war ein erneuter Krieg im Nahen Osten: Am heiligen Versöhnungsfest der Juden, Jom Kippur, griffen Ägypter und Syrer am 6. Oktober 1973 Israel an. Die westlichen Großmächte konnten schnell Frieden stiften, Ende Oktober wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der fortan von UN-Friedenstruppen kontrolliert wurde. Doch die zehn arabischen Ölstaaten, die über 60 Prozent der bekannten Erdölvorräte weltweit verfügten, verhängten am 17. Oktober ein Ölembargo gegen die USA, die stets israelfreundlich agierten, und die Niederlande, deren Hafen Rotterdam das wichtigste Handelszentrum für den Import von Erdöl nach Europa war. Gleichzeitig kündigte die OPEC, die Organisation der erdölexportierenden Länder, an, die Ölförderung um monatlich 5 Prozent zu drosseln.

Die Folge war ein weltweiter „Ölpreisschock“. In Deutschland stieg der Preis je Liter Benzin um 36 Prozent, der Preis für leichtes Heizöl vervielfachte sich von 12 auf 70 Pfennig je Liter. Kuriose Folge: Der Benzindiebstahl nahm zu, auffällig viele Vergiftete fluteten die Notaufnahmen und Apotheken, denn bevor das Benzin aus einem Tank floss, musste der Dieb erst einmal am Schlauch saugen. Der vorher kaum gefragte abschließbare Tankdeckel wurde plötzlich zum Verkaufsschlager.

Auch gesamtwirtschaftlich waren die Folgen einschneidend. Der Preis je Barrel Erdöl stieg trotz einer Dollarabwertung von 1973 bis 1974 um mehr als 170 Prozent. Insgesamt musste die Bundesrepublik 1974 für Ölimporte rund 150 Prozent mehr ausgeben als noch im Vorjahr, die Gesamtsumme betrug 23 Milliarden DM. Und Unternehmen mussten ihre Produktion einschränken: Die Industrieproduktion sank um 7,6 Prozent, in der Autoindustrie sogar um 18 Prozent.

Nun kam die Lohn-Preis-Spirale in Gang: Die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Vorgängerin der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft Verdi, streikte. In den Straßen türmten sich Müllberge, an den Flughäfen herrschte Chaos.

Deutschlands Wirtschaftswunder war vorbei. Die Krise hatte begonnen: Eine Phase der Stagflation nahm ihren Anfang: steigende Preise, stagnierende Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit. Das Bruttosozialprodukt drehte von einem Plus von 5,3 Prozent 1973 über eine Stagnation 1974 auf ein Minus von 1,8 Prozent 1975. Nach der Ölkrise begann übrigens die erste Energiewende: Im Dezember 1973 wurde vom Bundeskabinett ein 6-Milliarden-Investitionsprogramm für den Bau von 40 Kernkraftwerken verabschiedet, Großbritannien und Norwegen verstärkten ihre Förderung von Nordseeöl, und die Diskussion um die Umstellung auf Sommerzeit kam auf. Sie wurde dann 1980 eingeführt.

Heizen also Energiepreise die Inflation an? Ja, natürlich tun sie das, wenn sie steigen. Aber umgekehrt können fallende Energiepreise auch entlasten. Allerdings wird die Klimapolitik für mittel- und langfristig steigende Energiepreise sorgen und somit für einen latenten Inflationsherd. Selbst wenn die Energiepreise für sich nur einen Teil der Inflation ausmachen: Als Anstoßeffekte sind sie über das kollektive Trauma und die gefühlte Inflation extrem wirkungsvoll.

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