Wo bleibt der Aufschrei?

Deutschland muss mehr tun gegen das erschreckende Aufwallen des Antisemitismus

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PICTURE ALLIANCE/PETER STEFFEN/DPA
Die wehrhafte Demokratie braucht mehr als Lichterketten.
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Die wehrhafte Demokratie braucht mehr als Lichterketten.

Wo bleibt der Aufschrei?

Deutschland muss mehr tun gegen das erschreckende Aufwallen des Antisemitismus

Es war wie immer: Die Reden nach dem Anschlag von Halle waren schnell verklungen, vergessen all die wohlgesetzten Worte. Der Terrorakt vom 9. Oktober 2019 versetzte unser Land für einen Moment in Schockstarre. Danach war alles wie gehabt: Viele Worte, viel Betroffenheit, keine Taten. Knapp ein Jahr danach sorgt ein antisemitischer Angriff auf einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge in Hamburg abermals für Bestürzung bei Juden in der Bevölkerung wie in der Politik. Die schweigende Mehrheit der Deutschen lässt es nach meiner Beobachtung dagegen kalt, dass es wieder so weit ist in Deutschland: Juden können sich ihres Lebens nicht mehr sicher sein. Die roten Linien werden jeden Tag aufs Neue überschritten.

Corona und Antisemitismus gingen in den vergangenen Wochen und Monaten eine gruselige Verbindung ein, gegen die sich erstaunlicherweise kaum Widerstand regte. So sind Demonstranten unterwegs, die vor einem Vergleich der Corona-Maßnahmen mit dem Holocaust nicht zurückschrecken. Binnen weniger Tage mutierte das Virus zu einer irren Mischung aus antisemitisch geprägten Verschwörungsphantasien. Dass die Sicherheitsbehörden gleichzeitig vor einer Unterwanderung der Demonstrationen durch Rechtsextreme warnen, passt ins Bild.

Schon lange vor diesen alarmierenden aktuellen Entwicklungen hatte ich das Gefühl, dass wir in Deutschland dieser Entwicklung zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Viele Gespräche mit jüdischen Frauen und Männern führten mir schon vor Jahren deren tiefe Sorge vor Augen, ob sie in dem Land, in das ihre Familien nach dem Holocaust mit einem enormen Vertrauensvorschuss zurückgekehrt waren, noch sicher seien.

Diese Sorge hat mich dazu bewegt, „Stoppt den Judenhass! Eine Streitschrift gegen den Antisemitismus“ zu verfassen. Es ist geschrieben für die jüdische Minderheit in diesem Land – als Teil und stellvertretend für alle Minderheiten, die sich bedroht fühlen und Schutz vermissen. Es ist geschrieben gegen alle, die diesen Zustand herbeigeführt haben, zulassen oder fördern.

Natürlich weiß ich, dass die Gleichgültigen immer und überall in der Mehrheit sind. Warum sollte das hierzulande anders sein. Aber wie ist zu erklären, dass auch den Engagierten, die gerne, viel und gegen alles auf die Straße gehen, die Juden und Israel ziemlich gleichgültig erscheinen? Es gäbe durchaus die Möglichkeit, gegen Antisemitismus zu demonstrieren. Wo bleibt der Aufschrei gegen den Judenhass? Es ist zu wenig, nach einem Anschlag in einer spärlichen Lichterkette für eine Stunde Betroffenheit zu demonstrieren.

In den vergangenen Wochen habe ich viele Gespräche mit jüdischen Freunden geführt. Ihre größte Sorge gilt zurzeit der Bedrohung von rechts. Tausende gewaltbereiter Rechtsextremisten sind zu allem entschlossen, auch zum Mord. Ihre internationale Verknüpfung im Internet überfordert die Sicherheitsbehörden. Die Gefahr ist von Seiten der Politik inzwischen erkannt, doch sind Experten aus den Diensten skeptisch, ob sie der Bedrohung Herr werden. Dort kommt die AfD ins Spiel. Die Partei war bisher nicht in der Lage, ihre braunen Sumpfgebiete auszutrocknen. Ihre Wortwahl auf politischer Bühne bereitet daher den Boden für Hass, weil sie von Rechtsextremisten als Ermunterung empfunden werden. Da hilft es auch nichts, wenn sich die Wölfe den Schafspelz überziehen.

Die Antisemiten, die Judenhasser haben sich in unseren Alltag geschlichen. In der Mitte der Gesellschaft sind sie nicht erst jetzt angekommen, dort waren sie schon immer. Anders als früher hetzt man heute jedoch lauter und schamloser gegen Juden, weil die rote Linie, jenseits der die Zone des Unsagbaren beginnt, längst überschritten ist.

Antisemiten dehnen ihr Aktionsfeld hemmungslos aus. Die unverhohlene Judenfeindschaft wird ganz offensichtlich von einer wachsenden Zahl von Bürgerinnen und Bürgern stillschweigend hingenommen und nicht als abstoßend, ekelerregend, menschenverachtend und barbarisch geächtet. Die Antisemiten sind überall. Es sind mehr geworden. Es sind mehr, als die Statistik sagt. Sie sind radikaler geworden. Juden in Deutschland ist es ziemlich gleichgültig, wer sie angreift: Rechtsextreme, radikale Muslime, Antizionisten, Akademiker aus der bürgerlichen Mitte. Sie wollen endlich eine überzeugende Antwort auf die Frage, die über Bleiben oder Gehen entscheidet: Wer schützt uns in diesem Land?

Unser politisches Spitzenpersonal muss sich die Frage gefallen lassen, warum es gegen das Coronavirus entschlossener vorgeht als gegen Rassismus und Antisemitismus. Corona wird durch Handeln bekämpft, beim Antisemitismus bleibt es bei Lippenbekenntnissen. Sie sind das Merkmal eines schwachen Staates, der den Worten keine Taten folgen lässt. Die wehrhafte Demokratie, die den Schutz aller Menschen in ihrem Verantwortungsbereich zu garantieren hat, ist zu einer nachlässigen Demokratie verkommen.

„Nie-wieder“-Reden hören sich gut an. Es sind Pflichtübungen. Sie lösen kein Problem. Sie halten keinen Rassisten oder Antisemiten von der Tat ab. Wir haben es in diesem Land zu lange zu weit kommen lassen. Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit haben sich in den vergangenen Jahren breitmachen können, ohne dass ihnen entschieden Einhalt geboten wurde. Eine wirkliche, eine starke Antwort der Politik steht trotz einiger sinnvoller Einzelmaßnahmen noch aus. Der wehrhafte Staat trägt eine besondere Verantwortung für die Angehörigen seiner Minderheiten. Sie sind Teil von uns. Das Unheil, das ihnen geschieht, widerfährt uns allen.

Für Deutschland hat ein Wiederaufleben des Antisemitismus eine völlig andere Bedeutung als für andere Länder Europas oder für die USA. Für den Historiker Michael Brenner bedeutet diese historische Verantwortung, nicht nur das Geschehene in Erinnerung zu behalten, sondern auch „jegliche neue Hetze in irgendeiner Form und gegenüber irgendeiner Minderheit im Keim zu ersticken.“

Deutschland ist ein großartiges Land, um das uns die Welt beneidet. Aber in diesem Land macht man Jagd auf Juden, Muslime, Ausländer, „Fremde“, die anders aussehen. Es reicht.

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