Zuspitzung

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

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Zuspitzung

Kolumne | Auf den Zweiten Blick

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist Taiwan der politische Hotspot der Welt. Die Reaktion des Westens auf den russischen Überfall ist ein Study Case für die Volksrepublik China mit ihrem Gebietsanspruch auf die „abtrünnige Provinz“, die längst ein demokratischer, hervorragend funktionierender Staat geworden ist. An Taiwan könnte sich, machte China mit seiner Ankündigung einer im Extremfall militärisch erzwungenen Vereinigung ernst, ein dritter Weltkrieg entzünden.

So jedenfalls wird im Westen gemutmaßt – allerdings nicht zum ersten Mal in der 70-jährigen Geschichte des eigenen Weges der Insel. Derzeit werden reihenweise Prophezeiungen und politische Statements veröffentlicht, dazu allerlei Studien, wie ein solches Ernstfallszenario aussehen könnte. Nichts davon ist neutral. Politische Aussagen sind es so oder so nicht. Aber die Analysen werden vom Ende her gedacht, also mit einem bestimmten Informations- oder gar Manipulationsziel verbunden – von beiden Seiten. Im Extremfall schüren sie Ängste. Und Ängste sind maßgeblich für die politischen Stimmungslagen vor allem des Westens.

Dabei ist die westliche Sicht auf die Konfliktlage nicht unbedingt die der Taiwaner. Zwar werden dort die Politiker und Politikerinnen einschließlich der Staatschefin Tsai Ing-wen nicht müde, die chinesische Gefahr zu beschwören, was natürlich auch nicht ohne strategische Intention geschieht. Doch spielt der nunmehr seit 70 Jahren schwelende Konflikt in der Alltagswahrnehmung der taiwanischen Bevölkerung kaum eine Rolle. „Wir leben mit diesem Thema seit 70 Jahren“, heißt es dann. „Mal spitzt sich das Verhältnis zu, dann entspannt sich die Lage wieder.“

Zumindest der ältere Teil der Bevölkerung weiß, wovon er spricht. Er hat etliche Phasen massiver Bedrohung erlebt, einschließlich großangelegter Militärmanöver der bis an die Zähne bewaffneten Volksbefreiungsarmee vor der Insel. Erinnert sei nur an die dritte Taiwankrise Mitte der 1990er-Jahre, die mit einem vielbeachteten Besuch des ersten demokratisch gewählten Präsidenten der Republik China, Lee Teng-hui an seiner amerikanischen Alma Mater einherging. Daraufhin hielt China ein Manöver mit scharfen Raketentests nördlich der Insel ab. Es dauerte fünf Tage, das zweite folgte im August. Im Frühjahr 1996 zog die chinesische Regierung 150 000 Soldaten an der Küste zusammen und feuerte M9-Raketen in die Fahrrinne taiwanesischer Häfen. Mit unmissverständlicher Botschaft: Taiwan wäre jederzeit auf dem Seeweg zu isolieren. Ernst machte China nie, dabei wäre damals der Preis einer militärischen Blockade oder gar Invasion noch nicht so hoch gewesen.

Heute aber würde sich – auch das wissen die Staatsbürger Taiwans – China damit vor allem selbst zusetzen. Denn anders als seinerzeit bestehen inzwischen intensive Handelsbeziehungen zwischen Taiwan und dem Festland. Die Insel liefert an China vor allem Produkte, auf die die gesamte chinesische Hightechindustrie angewiesen ist und die sie selbst nicht herstellen können. In Taiwan sind die, die es können, vorbereitet auf einen chinesischen Überfall. Auch das ist seit Jahrzehnten so. Mal fließt mehr Kapital ins Ausland, mal weniger. Aber auch die Normalbürger bleiben gelassen: „Mit unserem Ausbildungsniveau werden wir im Fall des Falles im Westen sicher überall willkommen sein.“

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