Agenda 2036

Das russische Verfassungsvotum: Vorhang zu und viele Fragen offen

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SHUTTERSTOCK/NICKOLAYV
Verfassungspatriotismus: Aus Protest gegen das Referendum halten Demonstranten in Moskau Mitte Januar Ausgaben des Gesetzestexts in die Luft.
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Verfassungspatriotismus: Aus Protest gegen das Referendum halten Demonstranten in Moskau Mitte Januar Ausgaben des Gesetzestexts in die Luft.

Agenda 2036

Das russische Verfassungsvotum: Vorhang zu und viele Fragen offen

Der Vorhang ist gefallen nach einer aufwendigen Selbstinszenierung des russischen Staates. Eine Woche lang, vom 25. Juni bis zum 1. Juli, stimmte die russische Bevölkerung über die von Präsident Wladimir Putin Anfang des Jahres initiierte Verfassungsreform ab. Aufgrund der Corona-Pandemie konnte die rechtlich nicht notwendige, aber aus der Sicht des Kremls für die Legitimation „von unten“ unabdingbare Volksabstimmung im April nicht stattfinden. Die gewählte Form der Verfassungsänderung hätte eigentlich keine Volksabstimmung erfordert, das Parlament hatte der neuen Verfassung bereits zugestimmt, und Putin hatte sie bereits unterschrieben. Dennoch wollte man nicht auf die demonstrative Einbeziehung der Bevölkerung verzichten. Die Verfassungsreform war im Januar als Antwort auf den in der Gesellschaft spürbaren, aber noch wenig konkreten Wunsch nach Veränderung angekündigt worden. Dieser Logik entsprach die Volksabstimmung.

Hauptziel war es, Putin über seine jetzige Amtszeit hinaus konkrete Optionen zu eröffnen. Ihm steht es nun dank einer Nullung seiner bisherigen vier Amtszeiten frei, 2024 und 2030 erneut zu kandidieren. Sein Zeithorizont an der Spitze des russischen Staates erweitert sich damit auf 2036. Aber auch als Vorsitzender des Staatsrats, eines gestärkten Beratungsgremiums, könnte er Kontrolle ausüben, ohne direkte politische Verantwortung zu tragen. Diese Kombination könnte vor allem im Zuge der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie attraktiver werden. Darüber hinaus sind Ex-Präsidenten nun durch das Prinzip der Immunität abgesichert.

Am russischen Beispiel zeigt sich, dass eine schwer kalkulierbare Krise wie Corona für autoritäre Machthaber ein Risiko darstellt. Die sorgfältig geplante Volksabstimmung musste abgesagt werden, ebenso die für die Selbstdarstellung nach innen und außen so wichtige Militärparade am 9. Mai, mit der man an den Sieg über Nazi-Deutschland erinnert. Darüber hinaus sanken Putins Beliebtheitswerte während des Lockdowns weiter. Auch wenn die regelmäßig in Umfragen gemessene Zustimmung noch bei 60 Prozent liegt, zeigte eine Umfrage der unabhängigen Agentur Levada im Mai, dass Putin bei einer anderen Fragestellung, bei der es darum ging, Politiker zu benennen, denen man vertraut, nur auf 25 Prozent kam. Er erschien während des Lockdowns weniger präsent und souverän und delegierte Verantwortung an den Premierminister, einen Krisenstab und regionale Gouverneure.

Umso wichtiger erschien es, der Pandemie zum Trotz das geplante Programm zeitnah nachzuholen, selbst wenn diese Entscheidung in den nächsten Wochen erhebliche gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen könnte. Zunächst erfolgte die Aufhebung der strengen Ausgangsbeschränkungen – gegen den Willen des Moskauer Bürgermeisters Sergej Sobjanin. Am 24. Juni folgte die verschobene Militärparade in Moskau, flankiert von Feierlichkeiten in vielen Regionen des Landes. Dieser Feiertag markierte den patriotischen Auftakt zur einwöchigen Volksabstimmung, die am 1. Juli in einen arbeitsfreien Tag mündete.

Das Ergebnis ist wenig überraschend. Putin bedankte sich am Donnerstag bereits bei der Bevölkerung: Laut vorläufigem offiziellen Endergebnis lag die Beteiligung an der Abstimmung bei 68 Prozent; knapp 78 Prozent stimmten für die Verfassungsreform. Auch wenn man eine geringe Beteiligung oder gar ein Negativvotum nicht zugelassen hätte, so ist doch zu vermuten, dass die massive Kampagne, die die Wahlberechtigten mobilisieren sollte, ihren Zweck erfüllt hat. Schätzungen zufolge hat sie ungefähr so viel gekostet wie die Wahlkampagne vor der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren. Daran lässt sich ablesen, welche Bedeutung die Volksabstimmung für den Präsidenten hatte.

Die Kampagne setzte auf die nun in der Verfassung verankerten sozialen Garantien – Mindestlohn und Rentenindexierung – und traditionelle Werte, wie etwa die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau, den Bezug auf Gott, den Schutz der „historischen Wahrheit“ und der territorialen Integrität Russlands – Letzteres ein klarer Hinweis auf die 2014 annektierte Krim.

Selbst an russischen Maßstäben gemessen, war die Art und Weise, mit der für die Teilnahme an der Abstimmung geworben wurde, ein Novum. Die Volksabstimmung war zugleich eine Lotterie: Es winkten attraktive Preise wie Autos und Handys; daneben erhielt man Punkte, die sich in Geschäften einlösen ließen.

Trotz des Ergebnisses sind die Erwartungen der Bevölkerung begrenzt. In einer Online-Umfrage des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), in der im April 2020 3000 Russen und Russinnen im Alter von 16 bis 34 Jahren in Russlands 15 größten Städten und diversen kleineren Städten befragt wurden, waren zwei Drittel der Befragten der Ansicht, Putin solle 2024 sein Amt niederlegen. Die jüngere Generation, von denen laut einer Gallup-Umfrage von 2019 über 40 Prozent an Emigration denken, steht dem jetzigen System weitaus weniger positiv gegenüber, als es das offizielle Narrativ von der staatstragenden Jugend suggeriert.

Präsident Putin hat sich seine Macht so weit wie möglich institutionell abgesichert. Das Gefühl der Alternativlosigkeit in weiten Kreisen der Bevölkerung lässt sich jedoch nicht mit aktivem Zuspruch für den Präsidenten gleichsetzen. Die sozialen und wirtschaftlichen Kosten der Corona-Pandemie werden diesen Widerspruch sichtbarer machen und den Druck auf das System erhöhen.

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