Aggiornamento subito

Nach dem Kölner Gutachten: Wenn die Kirche sich nicht ändert, droht ihr der Zerfall. Appell eines verzweifelnden Katholiken

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ASSOCIATED PRESS | INA FASSBENDER
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ASSOCIATED PRESS | INA FASSBENDER

Aggiornamento subito

Nach dem Kölner Gutachten: Wenn die Kirche sich nicht ändert, droht ihr der Zerfall. Appell eines verzweifelnden Katholiken

Jedem steht es frei, die biblische Heilsvision Christi anzunehmen oder eben nicht. Die katholischen Weggefährt*innen haben persönlich und völlig hierarchielos den unmittelbaren, neutestamentlichen Auftrag, bekennend zu sein, die Frohe Botschaft zu verkünden und tätige Nächstenliebe zu üben.

Ja, es gibt unbestritten auf dieser Glaubensbasis sehr viel Gutes in der Welt und den Gemeinden vor Ort. Erst recht gibt es keinen Grund für pauschales Priester-Bashing.

Verfolgt man aber das Geschehen der letzten Jahrzehnte und insbesondere die Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erschreckt das aktuelle Erscheinungsbild der Amtskirche. Speziell die katholischen Hirten irritieren die eigene, ihnen bloß anvertraute Herde bis ins Mark. Die aktuelle Austrittswelle gleicht einem Exodus. Wenn die katholische Kirche jährlich eine Million Gläubige durch Tod und Austritt verlieren sollte, wären die Reihen und Steuersäckel in zwanzig Jahren leer, denn Nachwuchs ist allseits ein Problem. Dies darf nicht simpel als hinnehmbare, aktive Absetzbewegung derjenigen gewertet werden, auf die man ruhig verzichten kann, um mit dem Rest der Verbliebenen durch die Wüste zu ziehen. Es wird umgekehrt von vielen bisher Getreuen schmerzlich als katholische Vertreibung aus der langjährigen religiösen Heimat empfunden.

Und das übrige Publikum steht abseits und staunt. Dabei hatten Kirche und deren Vertreter lange einen hohen Stellenwert in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Auch heute wird sie eigentlich als moralische Instanz, Vermittlerin des Glaubens und seelsorgerische sowie caritative Leistungsträgerin dringend gebraucht. Der Bedarf nach all dem ist groß.

Aktuell machen es die Folgen und seelischen Kollateralschäden der Pandemie überdeutlich. Eine solche Entwicklung hätte man zu den Aufbruchzeiten des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Anspruch des aggiornamento von Papst Johannes XXIII. nicht für möglich gehalten.

Nein, das alles ist nicht allein die Schuld des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki, der gleichwohl leider ungeschickt agierend durch sein aus der Zeit gefallenes Auftreten und unglückliches Verhalten den Unmut und sogar den Zorn vieler Kirchenmitglieder, vor allem Betroffener auf sich zog; auch jetzt kam von ihm kein bereuendes Wort der Entschuldigung. Woelki erscheint entweder nicht oder schlecht beraten worden zu sein – oder ist einfach beratungsresistent. Gutes Krisenmanagement und der Rückgewinn von Vertrauen nach beklagenswerten Fehlentwicklungen funktioniert bekanntlich anders. Wer hat sich nicht alles schon von tiefen Krisen und eklatanten Imageschäden letztlich wieder erholt.

Das am Donnerstag endlich veröffentlichte Kölner Rechtsgutachten offenbart „systembedingte bzw. -inhärente innerkirchliche Vertuschungsmuster“ und liefert die traurigen Zahlen der Missbrauchsfälle, die scharf zu verurteilen und gründlich und endlich aufzuarbeiten sind. Woelki selbst sind keine juristischen Pflichtverletzungen nachzuweisen, was bei seiner langjährigen Nähe zu Kardinal Joachim Meisner verwundert.

Andere werden sich rechtfertigen oder gehen müssen – der einstige Weihbischof in Köln und heutige Hamburger Bischof Stefan Heße etwa. Auf die oft als Relativierung angeführte Gleichheit im Unrecht parallel zum inakzeptablen Missbrauch in der übrigen Gesellschaft kann sich die Geistlichkeit („Brüder im Nebel“, so einst Meisner) nicht berufen. Die zunehmende Kritik betrifft u.a.

• teils absolutistisches Gehabe in einer undemokratisch verfassten Institution,
• die männliche Dominanz und ausdrücklich vom Vatikan als „auf ewig“ proklamierte Ungleichbehandlung von Frauen,
• die Intransparenz in Bezug auf Vermögenswerte und Finanzströme sowie
• die wirklichkeitsferne priesterliche Lebensform und die teils vorgegaukelte Einhaltung des Pflichtzölibats.

Im Jahr des ökumenischen Kirchentags ist die vatikanische Zurückweisung der dem Gewissen der Gläubigen freigestellten Eucharistiegemeinschaft der Konfessionen ein echter Affront. Gleiches gilt für die immer noch verwehrte bloße Segnung homosexueller Paare, denen unverhohlen noch immer „Sünde“ vorgeworfen wird. Ein evangelisch-reformierter Bremer Pastor wurde jüngst genau deswegen erstinstanzlich wegen Volksverhetzung verurteilt. Ob ausgerechnet aus dem Glashaus Vatikan Steine auf jene Mitbrüder und -schwestern im Glauben geworfen werden sollten, ist auch jenseits der Pride-Bewegung durchaus fragwürdig.

Im hiesigen Kirchensteuerland erscheinen einem die katholischen Kleriker teilweise wie Hohepriester, Pharisäer und Zöllner in einem. Und der Staat und seine Repräsentanten halten sich diskret und anscheinend unbetroffen angesichts nicht zu leugnender Diskriminierung und Kriminalität vornehm, aber unverständlicherweise zurück.

Man liefert als Fiskus mittels der Finanzämter brav und bedingungslos die pekuniäre Mittelbasis. Bei 6,7 Milliarden Euro katholischer Kirchensteuer pro Jahr fehlt der nötige finanzielle Druck, den unzufriedene Mitglieder, etwa durch eine temporäre „Auszeit“, leicht ausüben könnten.

Die bisher nicht gefragte schweigende Mehrheit kann nun seit Anfang März dazu erstmals unkompliziert und anonym abstimmen: www.katholischer-klartext.de. Die Ergebnisse und die Quittung erhalten die Bischöfe Ende September zur Herbstvollversammlung in Fulda und der Vatikan in Rom. Ein „Weiter so und Amen“ darf es nicht geben.

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