Debakel am Hindukusch

Ein Kommentar

18
08
PICTURE ALLIANCE/AP PHOTO/SHEKIB RAHMANI
18
08
PICTURE ALLIANCE/AP PHOTO/SHEKIB RAHMANI

Debakel am Hindukusch

Ein Kommentar

Die Bilder, die uns als Fernsehzuschauer erreichen, machen sprach- und fassungslos. Kabul ist von den Taliban-Kämpfern innerhalb von 48 Stunden eingenommen worden – ohne nennenswerten Widerstand der vom Westen hochgerüsteten und ausgebildeten Regierungsarmee. Das deutsche Botschaftspersonal war wie das anderer Botschaften zu dem Zeitpunkt noch nicht ausgeflogen worden, sondern musste sich um Evakuierung bemühen. Deutsche Angehörige internationaler und nationaler Hilfsorganisationen waren zum großen Teil nicht informiert, dass und wie sie Afghanistan verlassen sollten und konnten. Und ein Großteil derjenigen, die der Bundeswehr und ihren Organisationen seit zwei Jahrzehnten in Afghanistan als Helfer zur Seite standen, kämpfen verzweifelt um ihre Ausreise und damit um ihr nacktes Überleben und das ihrer Familien.

Richtig ist: Niemand kann derzeit einschätzen, wie sich die Taliban gegenüber ausländischen Vertretern in Kabul verhalten werden. Ob sie den rigorosen Weg zurück in die Taliban-Steinzeit beschreiten oder ein gemäßigtes Kalifat errichten werden. Das alles ist aktuell eine große Spekulation für die Zukunft dieses 38-Millionen-Einwohner starken Landes am Hindukusch. Was wir aber jetzt schon sehen können, ist, dass dieses Debakel am Hindukusch Deutschland und die westliche Staatengemeinschaft noch lange verfolgen wird: in der Gestalt von unzähligen Flüchtlingen, die ihrem Land den Rücken kehren, nach Europa streben und damit auch nach Deutschland.

Genauso frappant wie diese unmittelbare Folge des Scheiterns am Hindukusch ist der globale Ansehensverlust der westlichen Staatengemeinschaft unter Führung der USA und damit auch Deutschlands in der Welt. Dass sich in dieser weltweit zunehmenden instabilen außen- und sicherheitspolitischen Lage, die Bundesrepublik Deutschland, die bisher als international verlässlicher Partner galt, derart ungeordnet und chaotisch präsentierte, machten am Wochenende ein Teil der Regierungsrepräsentanten deutlich. Ob es Instinkt- oder Hilflosigkeit waren, mögen andere beurteilen. Als Bürger dieses Landes bin ich einfach nur peinlich berührt.

Da präsentiert sich die Bundesverteidigungsministerin fröhlich lachend am Sonntag in ihrer Heimatgemeinde Püttlingen beim Backen von Flammkuchen, während andernorts der für Afghanistan zuständige Staatsminister im Auswärtigen Amt sich lachend auf einer Fahrradtour zur Freiwilligen Feuerwehr in Hamburg-Pöseldorf unterwegs abfotografieren lässt. Wären die sozialen Netzwerke nicht inzwischen auch ein Medium der selbstgewählten öffentlichen Kontrolle von Politikern, man würde diese Dokumente für Fake News halten. Krise? Was für eine Krise? Es ist doch bald Bundestagswahl, die Kampagne muss weitergehen – könnte man den Betreffenden in den Mund legen. Dabei müsste die politischen Verantwortungsträger nur ein Gedanke an so einem Wochenende beschäftigen: Wie kann ich dabei helfen, unsere Botschaftsangehörigen und die Helfer der Bundeswehr in Afghanistan zu retten?

Hilflos und sprachlos fühlt sich der Bürger auch mit der Frage: Wie konnte es zu so einer Fehleinschätzung der seit 20 Jahren vor Ort befindlichen politischen Repräsentanten kommen und zu welcher Schlussfolgerung kam die Bundesregierung jeweils täglich in der Lageeinschätzung? Die naheliegende Vermutung lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder unsere Botschaft, die Bundeswehr oder der Bundesnachrichtendienst hatten keine Anhaltspunkte für die mangelnde Kampfkraft oder Kampfmoral der afghanischen Armee, oder es gab solche Hinweise, aber sie fanden nicht den Weg zur politischen Entscheidungsebene. Das wird im Einzelnen zu klären sein, aber die Erfahrung zeigt, dass dies dauern wird, weil auch politischer Streit um Verantwortung und Konsequenzen damit verbunden ist.

Fest steht nach vorliegenden Berichten, dass der Vertreter der Deutschen Botschaft permanent darauf hingewiesen hat, dass die Situation höchst prekär sei und dass man dem Auswärtigen Amt dazu rate, alle Vorbereitungen für die Ausreise zu treffen. Wer von den Tausenden beschäftigten im Auswärtigen Amt trägt die Verantwortung dafür, dass aus diesem Lagebericht eines stellvertretenden Botschafters keine Schlussfolgerungen gezogen wurden? Dafür, dass diese warnenden Hilferufe der eigenen Botschaft nicht wahrgenommen wurden und in einen Evakuierungsplan mündeten? Was wussten die hochrangigen Angehörigen der Bundeswehr vor Ort über die Kampfmoral der afghanischen Regierungstruppen? Was der BND im Verein mit den westlichen Partnerdiensten zur strategischen Infiltration durch die Taliban großer Teile Afghanistans, bevor Kabul wie ein Dominostein fiel? Hier sind das Auswärtige Amt, das Bundesverteidigungsministerium, aber auch das Kanzleramt, dem der BND untersteht, gleichermaßen gefordert.

Dies alles muss zwangsläufig zu Konsequenzen in der Sache, aber auch im Blick auf persönliche Verantwortung führen. Natürlich wird dafür der Bundestagswahlkampf nicht unterbrochen. Und es ist genauso ausgeschlossen, dass es bis zur Bundestagswahl eine komplette Aufklärung über Fehler, Fehleinschätzungen und Konsequenzen geben wird. Es ist auch gut so, dass nicht im laufenden Wahlkampf über Verantwortung und persönliche Konsequenzen erbittert gestritten wird. Denn wie weit das trägt, konnte man in den vergangenen Tagen besichtigen. Die Schuldzuweisungen liefen entlang des bekannten Polit-Musters: „Wir waren es nicht, die anderen waren es.“ Das Publikum ermüdet angesichts solcher kleinlichen Ränke zu Recht. Es will aber wissen, was politisch-organisatorisch getan werden muss, damit sich ein solches Debakel nicht wiederholt. Welche Vorkehrungen wir treffen müssen. Denn ansonsten dürfte allen klar sein: Niemals wieder wird eine Mehrheit des Deutschen Bundestages einen erneuten Auslandseinsatz der Bundeswehr beschließen.

Deshalb steht für mich fest: Der neu gewählte Deutsche Bundestag muss sich mit dem Debakel am Hindukusch in einem besonderen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss beschäftigen. Und zwar nicht mit dem Ziel, persönliche Schuld festzustellen. Stattdessen muss es darum gehen, inhaltliche Konsequenzen für Struktur und Organisation von militärischen Einsätzen der Bundeswehr in Bündnis- und UN-Zusammenhängen zu ziehen. Denn das in den vergangnen Monaten und Wochen offenbarte Versagen der Bundesregierung und der ihr nachgeordneten Ämter, Stellen und Organisationen ist so eklatant, dass es Deutschland auf Jahre schaden wird und Vertrauen kostet.

Jetzt und in den nächsten Tagen wird es allein darum gehen, so vielen Menschen, die unserer Armee in den zurückliegenden 20 Jahren als Helfer beigestanden haben, mit ihren Familien zu evakuieren und eine friedliche Zukunft bei uns zu eröffnen. Unser Ansehen als Bundesrepublik Deutschland in der Welt hängt auch davon ab, wie gut wir diese Aufgabe meistern werden. Und wie ernst wir es mit der innenpolitischen Aufarbeitung des Scheiterns in Afghanistan nach der Bundestagswahl meinen, wird mit darüber entscheiden, ob die Menschen auch einer künftigen Bundesregierung vertrauen, wenn es um Krieg und Frieden in der Welt und Deutschlands Beitrag zur Konfliktlösung geht. Es bleibt zu hoffen, dass allen Beteiligten diese große Herausforderung bewusst ist.

Weitere Artikel dieser Ausgabe