Demografische Demagogie

Wiederentdeckt im Wahlkampf: Familien, Mütter und Kinder

26
06
PICTURE ALLIANCE/PETER POPP
Legendär: Norbert Blüm, 1985
26
06
PICTURE ALLIANCE/PETER POPP
Legendär: Norbert Blüm, 1985

Demografische Demagogie

Wiederentdeckt im Wahlkampf: Familien, Mütter und Kinder

Familien, Mütter und Kinder waren lange Zeit vergessen, werden aber im Wahlkampf von sämtlichen Parteien umworben. Diese gehen mit Forderungen wie der nach einem Familiensplitting, einer Verbesserung der sogenannten „Mütterrente“, die auch Väter erhalten können, oder einer Kindergrundsicherung auf Stimmenfang. Dabei haben sie nicht verhindert, dass rund 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche, aber auch etwa genauso viele Seniorinnen und Senioren in Deutschland nach EU-Kriterien armutsgefährdet oder einkommensarm sind.

Kinder- und Altersarmut stellen der Regierung eines reichen Landes wie der Bundesrepublik ein politisches Armutszeugnis aus. Erstere beruht auf der Armut von Familien beziehungsweise Müttern und ist bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten erschreckend hoch; Letztere wird sogar noch zunehmen, wenn nicht bald mehr als die Einführung der „Grundrente“ in einer durchschnittlichen Höhe von weniger als 85 Euro und eine Erhöhung der „Mütterrente“ nur um etwas mehr als 17 Euro pro Monat und Kind geschieht. Da man die Armut bloß wirksam bekämpfen kann, wenn der Reichtum angetastet wird, was die etablierten Parteien entweder nicht wagen oder nicht wollen, dürfte auch die Bundestagswahl an der wachsenden sozialen Ungleichheit in Deutschland wenig ändern.

Wohlklingender Kampfbegriff

Bestimmt werden die genannten Konzepte der Parteien zur Verbesserung der Situation von Familien, Müttern und Kindern vom Leitbild einer größeren Generationengerechtigkeit. Unter diesem Schlagwort verlangen Medien und Öffentlichkeit von der Politik, mehr für junge Leute zu tun. Empfohlen wird die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 68 oder mehr Jahre, eine „Aktienrente“, welche die Alterssicherung den Finanzmärkten überantwortet und von der Rendite abhängig macht, eine „Generationenrente“, bei der von Geburt an in einen Pensionsfonds eingezahlt wird, oder ein öffentlich-rechtlicher „Bürgerfonds“, der Verwaltungskosten spart und an die Stelle der gescheiterten „Riester-Rente“ treten soll. Gewinner wären nicht die Jungen, sondern die Arbeitgeber, weil sie weniger Rentenversicherungsbeiträge für ihre Mitarbeiter zahlen müssten.

„Generationengerechtigkeit“ dient als politischer Kampfbegriff, der neoliberale Vorstellungen im Hinblick auf die Transformation von (Sozial-)Staat und Gesellschaft nach Markterfordernissen, Konkurrenzgesetzen und Leistungsnormen dadurch legitimieren hilft, dass ein sich aus ganz anderen Gründen verschärfender Verteilungskampf zu einem „Generationenkrieg“ umgedeutet wird. Man reduziert soziale auf demografische Probleme, das heißt letztlich auf biologische Prozesse, was sie einer Lösung im Interesse der großen Bevölkerungsmehrheit entzieht.

Die Chefarzt-Rente

Damit gaukelt man jungen Leuten vor, sich für ihre Interessen einzusetzen. Dabei müssten sie – und eben nicht die jetzigen Alten – im Falle der Verwirklichung solcher Forderungen länger arbeiten und in die Rentenkasse einzahlen, während sie über einen kürzeren Zeitraum hinweg Rente beziehen könnten. Außerdem verschlechtert eine weitere Anhebung des Rentenzugangsalters auf 68 oder mehr Jahre die Arbeitsmarktchancen der kommenden Generationen. Bei der Verlagerung des Problems auf die private Altersvorsorge handelt es sich nicht um eine „kapitalgedeckte“, sondern eine finanzmarktabhängige Rente, die von jeder Bankenkrise zerstört werden kann.

Ähnliches gilt für das angestrebte Familiensplitting, von dem gerade die bedürftigsten Familien und ihre Kinder nichts hätten, weil sie ebenso wenig Einkommensteuer zahlen müssen wie den Solidaritätszuschlag, der vollständig abgeschafft werden soll. Von beiden Maßnahmen würde der Chefarzt mit vielen Kindern, die er wegen seines hohen Einkommens mühelos unterhalten kann, am meisten profitieren.

Die alte Mär vom überholten Sozialstaat

Deshalb wäre die Kluft zwischen Arm und Reich am Ende tiefer, was verschleiert würde, wenn man sie zu einem Generationenkonflikt zwischen Jung und Alt umdefiniert. Meist genügt schon ein Hinweis auf den demografischen Wandel, um die Wahlbürger ins Bockshorn zu jagen und ihnen weiszumachen, dass wir uns den Sozialstaat in seiner bisherigen Großzügigkeit „nicht länger leisten“ können. Schließlich hat inzwischen jeder verinnerlicht, dass die Jungen künftig immer mehr Alte ernähren müssen.

Um das Jahr 1900 ernährte ein Bauer vier oder fünf andere Menschen. Gegenwärtig sind es über 140, und bald werden es 200 sein. Bedauert jemand deshalb den heutigen Landwirt? Nein, denn schließlich muss dieser trotz größerer Leistungsfähigkeit weniger hart schuften als sein Berufskollege vor 120 Jahren. Warum soll ein sozialversicherungspflichtig Beschäftigter in Zukunft eigentlich nicht mehr Rentner „ernähren“ als gegenwärtig, wenn die Arbeitsproduktivität und der gesellschaftliche Reichtum, aus dem jede Rente finanziert wird, im selben Maße wachsen?

Ökonomie statt Biologie

In der öffentlichen Wahrnehmung erscheint die demografische Entwicklung vorwiegend als Krisen- oder gar Katastrophenszenario, das zu einer Anpassung der sozialen Sicherungssysteme (Kürzung von Leistungen, Verschärfung der Anspruchsvoraussetzungen und Privatisierung von Risiken) zwingt. Abgesehen davon, dass die langfristigen Prognosen der Bevölkerungswissenschaft selten zutrafen, weil etwa die Zuwanderung stark anstieg, darf die Demografie kein Mittel der sozialpolitischen Demagogie sein. Die Höhe der Renten hängt nämlich nicht von der Biologie, sondern erstens von der Ökonomie und zweitens von der Politik ab. Entscheidend ist, wie viel gesellschaftlichen Reichtum eine Volkswirtschaft erzeugt und auf wen, das heißt auch auf welche Altersgruppen, man ihn wie verteilt. Bei einer aktuell stagnierenden, künftig sogar sinkenden Bevölkerungszahl müsste im Falle eines nicht mehr explosionsartig, aber immer noch recht kontinuierlich wachsenden Bruttoinlandsprodukts für alle genug da sein.

Weitere Artikel dieser Ausgabe