Der Zug war pünktlich

Von neuen Quellen, individuellen Geschichten und großen Forschungsfragen – Gedanken anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

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PICTURE ALLIANCE/WILLFRIED GREDLER-OXENBAUER
Die Wiener Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich. 65 000 Namen sind in Steinmauern verewigt.
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PICTURE ALLIANCE/WILLFRIED GREDLER-OXENBAUER
Die Wiener Gedenkstätte für die in der Shoah ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich. 65 000 Namen sind in Steinmauern verewigt.

Der Zug war pünktlich

Von neuen Quellen, individuellen Geschichten und großen Forschungsfragen – Gedanken anlässlich des Internationalen Tages des Gedenkens an die Opfer des Holocaust

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Eine 19- oder 20-jährige Frau sitzt in einem überfüllten Zug, der am 23. November 1941 mit tausend jüdischen Männern, Frauen und Kindern aus Wien abfährt. Sie blickt aus dem Fenster. In ihr Tagebuch notiert sie während der mehrtägigen Fahrt, wie es ihr ergeht. Sie schreibt: „Im Zug ins Unbekannte.“ Eng aneinandergepresst sitzen sie im Abteil, sie hören, dass Riga ihr Ziel ist.

Sie beschreibt die Fahrt: „Am Sonntag um 6 h am Abend fuhren wir von Wien weg. (In Lastautos ging es zur Bahn. Wie das Vieh!). In der Nacht waren wir in Brünn, dann ging es weiter durch Oberschlesien nach Polen. In Polen ist es trostlos. Von Polen fuhren wir nach Ostpreußen und jetzt sind wir gerade über die lettische Grenze gefahren.“ An jener Stelle endet das Tagebuch. Und wenig später endet auch das Leben der jungen Frau.

Der Zug hatte nicht die lettische, sondern die litauische Grenze überquert. Ursprünglich sollte der Transport nach Riga gehen, doch wurde er, wie vier weitere Züge auch, Ende November 1941 kurzfristig nach Kaunas umgeleitet. Dort erschossen litauische „Hilfswillige“ unter dem Kommando von Angehörigen des Einsatzkommandos 3 die deutschen und österreichischen Jüdinnen und Juden kurz nach ihrer Ankunft im Fort IX, einer alten zaristischen Befestigungsanlage. Laut deutschen Akten erschossen sie die junge Tagebuchschreiberin am 29. November. Was mag in ihr und den anderen, die doch dachten, sie fahren zur Arbeit, vorgegangen sein, als sie zur Erschießungsstelle geführt wurden? Wie hat sie ihre letzte Nacht an dem fremden Ort verbracht?

Es gibt viele Geschichten wie diese zu erzählen, noch viele Quellen zu entdecken, manchmal in abgelegenen Archiven, in Beständen, in denen man sie gar nicht vermutet hätte. Damit zusammenhängend hat die Holocaustforschung in den vergangenen Jahren auch neue, andere Fragen gestellt. Wir sind weit entfernt davon – wie immer wieder suggeriert wird – alles zu wissen.

Seit den 1990er-Jahren hat sich die Forschung stark internationalisiert, zugleich auch stark ausdifferenziert. Der Holocaust wird in engem Zusammenhang mit Krieg und Besatzung analysiert, wobei sich die Perspektive immer mehr in Richtung Osteuropa verschoben hat, also zum Hauptschauplatz des Massenmords.

Der Holocaust wird als sozialer Prozess untersucht und damit kommen die Handlungsspielräume sämtlicher gesellschaftlicher Akteure in den Blick, die lange Zeit unter dem Begriff der bystander, also Zuschauer, gefasst wurden. Aber: Können etwa diejenigen, die von der „Arisierung“ profitierten, als unbeteiligt gelten? Oder die, die einem geflohenen Juden im besetzten Osteuropa, aus welchen Gründen auch immer, kein Versteck boten? Kann es in Gesellschaften, aus denen Minderheiten ausgegrenzt werden, überhaupt völlig unbeteiligte Zuschauer geben? Eine Frage von beklemmender Aktualität, eine Frage nach individuellen Entscheidungen in extremen Situationen.

Eine gesellschaftsgeschichtliche Perspektive auf den Holocaust richtet den Blick auf vielfältige Verhaltensweisen. Dies gilt auch für die Erforschung der Wahrnehmungen und des Verhaltens der Verfolgten, die sich in ihren Strategien und Reaktionen oft stark unterschieden. Eine Analyse bedeutet auch, die Opfer als handelnde Individuen wahrzunehmen, die, wie der Überlebende und Holocaustforscher Saul Friedländer einmal sagte, „eine Geschichte bis zum Tode“ hatten.

Je weiter wir den Blick nach Osten richten, umso größer sind die Leerstellen. Nach wie vor bemühen sich Forschende, die zahlreichen noch unbekannten Orte von Massenerschießungen zu ermitteln und ihre Geschichte zu erzählen. Dies ist mit großen Quellenproblemen verbunden, und häufig finden sich internationale Gruppen zusammen, um verstreute Dokumente und die noch lebenden Zeitzeugen ausfindig zu machen.

Die Vernetzung der internationalen Holocaustforschung ist auch aus sprachlichen Gründen wichtig: Kaum jemand versteht alle Sprachen, die nötig wären, um die Perspektiven der jeweiligen lokalen Bevölkerungen und der Jüdinnen und Juden regional übergreifend vergleichend zu analysieren. Durch einen solchen geweiteten Blick werden wir die Dynamiken des Holocaust, die gesellschaftlichen und politischen Zusammenhänge viel genauer verstehen. Für einige Regionen steht die Forschung erst am Anfang.

Holocaustforschung und -erinnerung hat auch eine politische Dimension. Von zentraler Bedeutung sind transnationale Netzwerke, in denen junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler diese schwierigen Fragen diskutieren können, gerade wenn sie aus Ländern stammen, in denen diese Forschungen politisch nicht opportun erscheinen. Eine wichtige Frage anlässlich des Holocaust-Gedenktages ist zudem: Wie schlagen wir die Brücke zwischen der Forschung und der übrigen Bevölkerung? Wie erreichen wir Menschen, die nicht wissen und nicht gedenken wollen – diejenigen etwa, die sich einen gelben Stern aufnähen, auf dem „Ungeimpft“ steht?

Wie steht es um die Zukunft der Erinnerung und der Erforschung des Holocaust in Europa? Schon bald wird es keine Zeitzeugen mehr geben, die davon berichten können. Wir haben aber die Quellen: Neben den offiziellen Dokumenten sind Tagebücher, Briefe und Berichte der Verfolgten überliefert, aber auch solche der Täter und der Helferinnen, Nutznießer, Beobachterinnen. Kehren wir doch stärker zurück zu den Quellen, gerade auch in der Vermittlung!

Die Internationalisierung der Holocaustforschung hat dazu geführt, dass ich, eine deutsche Forscherin, das zitierte Tagebuch einer österreichischen Jüdin, das in einem litauischen Archiv liegt, im Archiv des United States Holocaust Memorial Museum, in Kopie einsehen konnte und ihre Geschichte erzählen kann. Die junge Frau notiert kurz vor ihrer Deportation: „Vielleicht hat uns der liebe Gott lieb und lässt uns nicht nach Polen fahren. Es bleibt uns ja nur die Hoffnung.“ Eine gute Woche später war sie, die Träume hatte, die sich für ihre Zukunft etwas vorgenommen hatte, die liebte und geliebt wurde, die ein Leben vor sich hatte, tot.

Es sind diese Geschichten, die Menschen vielleicht dazu bringen, zuzuhören. Wir sollten nach genauen Analysen streben, aber auch danach, deren Ergebnisse in die Öffentlichkeit zu vermitteln. Und wir müssen von diesen individuellen Lebensgeschichten berichten, die eine Annäherung an und ein Interesse für das, woran am 27. Januar erinnert wird, eher ermöglichen als eine normative Überhöhung und Ritualisierung des Gedenkens.

Audio von Suse Lichtenberger.

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