Die Angst vor den Lärmenden

Die politische Klasse in Deutschland hat sich vom Querdenkerstuss ins Bockshorn jagen lassen – jetzt verliert das Land auch seine Wettbewerbsfähigkeit in Europa

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SHUTTERSTOCK.DE/JACEK CHABRASZEWSKI
In Österreich hat die Angst vor dem Verzicht auf den Schnitzelgenuss im Restaurant die Impfquoten steigen lassen. Für Veganerinnen und Veganer dürfte es auch Seitansteakpanik, mit Pfeffersoße, sein.
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In Österreich hat die Angst vor dem Verzicht auf den Schnitzelgenuss im Restaurant die Impfquoten steigen lassen. Für Veganerinnen und Veganer dürfte es auch Seitansteakpanik, mit Pfeffersoße, sein.

Die Angst vor den Lärmenden

Die politische Klasse in Deutschland hat sich vom Querdenkerstuss ins Bockshorn jagen lassen – jetzt verliert das Land auch seine Wettbewerbsfähigkeit in Europa

Die einen mögen ihn als fachkundigen Virologen, die anderen meiden ihn wie der Teufel das Weihwasser. Deutschlands führender Coronavirus-Forscher Christian Drosten hat im aktuellen Podcast der Hörfunker vom NDR in einem Nebensatz allerdings so unmerklich, ja, gleichgültig sehr viel über die Politik in Deutschland in dieser Phase der Pandemie gesagt, dass alle aufhorchen sollten: „Es gibt nach meiner Wahrnehmung seit längerem schon keine Politikberatung mehr.“

Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Wenn die These stimmt, ziehen die Politikerinnen und Politiker im Land der Dichter und Denker seit Monaten keinen Nutzen aus dem Besten, was die Republik an Wissenschaft in dieser Pandemie zu bieten hat. Und so geht Deutschland nun in die vierte, stärkste Infektionswelle der Pandemie. Da geht es nicht nur um diesen einen Professor des Berliner Universitätsklinikums Charité, viele andere Forscherinnen und Forscher unseres Landes, die sich mit dieser epochalen Gesundheitskrise beschäftigen, verstehen die Politik in Deutschland nicht mehr oder vielleicht besser die Spitzen-Beamten, die in der aktuellen Zwischenwahlzeit wohl tatsächlich regieren. Darunter sind Psychologinnen wie Cornelia Betsch aus Erfurt oder der Berliner Komplexitätsforscher Dirk Brockmann, dessen Profession 2021 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Brockmann war so klug, sich in seinem aktuellen Buch der Komplexitätsforschung als solcher zu widmen und nicht originär der epochalen Covid-19-Pandemie. Was hätte es auch genutzt? Scheint ja eh keiner zuzuhören.

Wer den Weg in diesem Covid-Winter in Deutschland verfolgt und die politischen Entscheidungen mit jenen in Frankreich, Spanien oder Portugal vergleicht – der kann auch nur zu dem Schluss kommen, dass in der Politik keiner mehr der Wissenschaft zuhört. Das Ganze gipfelte im Satz des bayerischen Gesundheitsministers, der unlängst davon fabulierte, die aktuelle Entwicklung wäre „nicht vorhersehbar“ gewesen. All das, was jetzt passiert, sagt die übergroße Mehrheit der fachkundigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Deutschland, dem Meister der geringen Impfquote und der Sowohl-als-auch-Lockerungen, seit September voraus.

Und so geschieht es jetzt. Hans Kluge, der Regionaldirektor Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hat Europa und Zentralasien bereits erneut zum „Epizentrum“ dieser Pandemie weltweit erklärt. Vorneweg Deutschland und damit das Land, in dem zwei von drei der neuen mRNA-Impfstoffe erfunden wurden. Einer davon hat sogar funktioniert und impft auf Grundlage eines Knebel-Vertrags eines kleinen Mainzer Unternehmens mit einem sehr potenten US-Multi gerade die Welt. Für Europa rechnet Kluge mit einer halben Million zusätzlicher Corona-Toter, davon allein in Deutschland möglicherweise mehr als 100 000 Opfer. Denn 15 Millionen Menschen in Deutschland, die jetzt eigentlich geimpft sein könnten, sind es nicht.

Wie konnte es so weit kommen? Da ist zum einen die viel zu geringe Impfquote von 67 Prozent (Frankreich aktuell: 87 Prozent). Das hat sicherlich viel mit der politischen Kommunikation zu tun. Impfen ist eine sensible Angelegenheit. Doch weder der noch amtierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch irgendeiner der regierenden Länderchefs hat in den vergangenen Monaten plastisch deutlich gemacht, worin der Unterschied zwischen der Impfspritze und der Infektion durch Sars-CoV-2 liegt. Dabei ist es ganz einfach: Mit dem Impfstoff gelangt kontrolliert mRNA in den Körper, bleibt dort etwa sechs Wochen und animiert das körpereigene Immunsystem, im Falle eines Falles auf das Coronavirus anzuspringen. Bei einer Infektion dagegen gelangt ein Vielfaches an fremder mRNA in den Körper und „vieles andere“, von dem die Wissenschaft bis heute nicht weiß, was es genau ist und was es langfristig Schädliches anrichten kann, sagt der Berliner Komplexitätsforscher Brockmann. Eigentlich recht einfach.

Verbunden mit einer massiven Werbekampagne für das Impfen und dem Ausschluss von Ungeimpften vom gesellschaftlichen Leben zum Abschluss der Sommerferien dieses Jahr hat etwa Frankreich die Menschen zum Impfen gebracht. Da verging kein Werbeblock im Radio oder Fernsehen ohne Impfaufruf, auf den digitalen Warnschildern der französischen Autobahnen hieß es: Auf zum Impfen! Emmanuel Macron wählte den Weg einer offensiven politischen Kommunikation und polterte: „Dieses Mal bleibt Ihr zu Hause und nicht ich und meine Töchter.“ Mit Widerständen – so sind sie auf der anderen Seite des Rheins – aber doch mit hoher gesellschaftlicher Akzeptanz werden seither Impf-Nachweise von Smartphone zu Smartphone in Restaurants und Museen gescannt.

In Deutschland aber ist da die Minderheit der Coronaleugner, der totalen Impfgegner, die seit Monaten den politischen Diskurs prägen. Weil sie laut sind. Die Politik hat also einer kleinen Gruppe politische Hebelwirkung eingeräumt gegenüber der übergroßen Mehrheit dieses Landes.

Bei all dem hat diese Republik eine scheidende Bundeskanzlerin, die sogar das wissenschaftliche Know-how mitbrachte, diese Pandemie gut zu bewältigen. Und es erscheint glaubwürdig, wenn man hört, dass sie im vergangenen Jahr bis weit nach Mitternacht viele Studien aufgesaugt – und verstanden hat. Allein, Angela Merkel hat sich politisch nicht durchsetzen können. Davon lebt Politik aber auch: sich durchzusetzen gegen Widerstände und nicht zu versuchen, sie wegzuverhandeln.

Jetzt ist Deutschland in einer Phase dieser Pandemie, in der klar wird, dass es gemeinsam mit den Ländern Ostmitteleuropas auch im kommenden Sommer sehr wahrscheinlich Covid-19 nicht hinter sich haben wird. Anders als Frankreich, Spanien, Portugal oder Italien. Dort schließt das Virus jetzt die „Impflücken“, wie Christian Drosten sagt, es immunisiert den ungeimpften Teil der Bevölkerung und sorgt bei einer Erkrankung der geimpften mit leichtem Verlauf für einen noch höheren Schutz. „Wir werden im nächsten Jahr eine Gruppe von europäischen Ländern haben, die durch ist, und eine andere Gruppe, die nicht durch ist. Ich denke, dass Deutschland bis dahin auch nicht durch sein wird“, sagt Drosten und macht dabei eine Rechnung auf. Die Volkswirtschaften in Europa, die schneller aus der Pandemie kommen, werden diesen Vorteil zu nutzen wissen. Deutschland gehört nicht zu dieser Gruppe.

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