Draußen vor der Tür

Was Menschen mit ihrem Körper vermögen – oder vom Sinn und Widersinn pandemischer Spiele

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PICTURE ALLIANCE/GEISLER-FOTOPRESS
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Draußen vor der Tür

Was Menschen mit ihrem Körper vermögen – oder vom Sinn und Widersinn pandemischer Spiele

Let the games begin? Zum ersten Mal in ihrer Geschichte werden die Olympischen Spiele ohne Publikum ausgetragen. In den Stadien wird die Begeisterung der Zuschauer ebenso fehlen wie die festliche Stimmung in der Olympiastadt. Damit gehen dem Ereignis zwei wesentliche Größen verloren, die Veranstalter und Sponsoren für die Erzeugung von Emotionen und eines erstklassigen Werbeumfeldes fest eingeplant hatten. Die Spiele im quirligen Tokio sollten ein großes Fest werden. Von ihnen hatte sich das Internationale Olympische Komitee (IOC) einen kräftigen Schuss Vitalität versprochen; nun kann es nur noch eine ausgedünnte Veranstaltung zwischen Quarantäne und Berührungsfurcht anbieten.

Olympische Spiele sind in ihrer medialen Darstellung ein überwältigendes Ereignis. Es wirkt auf die Sinne und lässt den Betrachter verwirrt zurück. Was ist dies für ein merkwürdiges Spektakel, das so viele Menschen anspricht und das vorgibt, der ganzen Welt zu gehören – und das doch auf Nationalismus und Gewinnstreben hinausläuft? Vieles, was am Olympismus unmittelbar verständlich zu sein scheint, enthüllt bei genauerem Nachdenken eine eigentümliche Struktur. Dies erweist sich schon bei der einfachsten Frage: Wo ist der Ort, an dem sich die Spiele ereignen?

Fernsehspiele

Von der japanischen Bevölkerung wird der große Enthusiasmus, auf den man nach den trüben Spielen von Rio gehofft hatte, nicht ausgehen. Sie wirkt niedergedrückt von der Furcht vor Ansteckung durch die vielen fremden Besucher. Eine Abwehr, die hinter den Ritualen der Gastfreundschaft verborgen gehalten wurde, macht sich in offenen Reaktionen breit. Sie richtet sich gegen die verschwenderischen Ausgaben der eigenen Regierung für die Spiele wie gegen das herrische Auftreten des IOC mit seinem Präsidenten Thomas Bach.

Tokio ist der Platz, an dem alle Akteure Olympias zusammentreffen. Es ist jedoch nicht der einzige und auch nicht der wichtigste Ort dieser Sommerspiele. Wegen des fehlenden Publikums wird das Geschehen in den weltweiten Medien ungleich wichtiger. Dort wird ein ungeheures Angebot für Sehen, Hören und Befindlichkeit der Mediennutzer in der ganzen Welt aufbereitet. In den Stadien wird Stille herrschen. Von den Wettkämpfen selbst werden jedoch Bilder, Töne und Resonanzen ausgesendet. Die Medien verarbeiten sie zu Szenen aus verschiedensten Blickwinkeln, mit variablen Geschwindigkeiten, Wiederholungen, Einzelbildern und unterlegen sie mit Kampflärm, Zurufen, Siegesschreien, Nationalhymnen, mit den Laufgeräuschen auf der Tartanbahn, mit dem Klatschen der Schläge beim Boxen, dem Poltern der niedergeworfenen Hanteln.

Jenseits der Massen

Das alles sehen und hören Zuschauer, die um den ganzen Globus verteilt treu zu „ihren“ Landsleuten halten oder sich neugierig Menschen aus anderen Ländern anschauen. Überall auf der Welt gibt es ein lebhaftes Interesse an der Demonstration von Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit, gleich ob die überlegene Person auf einem Rennrad oder in einem Achter sitzt, ob sie mit einem Schläger oder Bogen schießt, ob sie im Wasser Bahnen schwimmt oder Stadionrunden läuft. Was das weltweite Publikum vor die Bildschirme und ins Internet lockt, ist das, was Menschen mit ihrem Körper vermögen.

Wir haben uns bei den Geisterspielen des Fußballs angewöhnt, nicht die leeren Tribünen zu sehen, sondern uns auf den sportlichen Wettkampf zu konzentrieren. Dem Fußball fehlt jedoch ohne Publikum eine entscheidende Kraft, die das Spielgeschehen beeinflussen kann. Auf die Individualsportarten, die bei den Spielen weitaus in der Mehrzahl sind, trifft dies deutlich weniger zu – die meisten Sportarten kommen ohne den Zulauf von Massen aus. In einer Reihe von Disziplinen würde ein permanenter Stadionlärm sogar stören. Die Athletinnen sind es gewohnt, sich auf sich selbst und die Auseinandersetzung mit den Gegnern zu konzentrieren. Sie erwarten nicht, am Olympiaort die Kulisse eines Heimspiels vorzufinden. Die Spannung ihres Wettkampfs baut sich im Inneren des Konkurrenzgeschehens auf. Der Ruhm der Goldmedaille bewegt sie mit größerer Intensität als die Anfeuerung durch einen Pulk von Anhängern.

Die Aura des Zeremoniells

Der Ort der Siegerehrung erscheint im Fernsehen entrückt, erfüllt mit Pathos und Feierlichkeit, als ein Raum jenseits der Sportanlage, auf der sie stattfindet. Die Zeremonie ist sichtbarer Ausdruck der sportlichen Hierarchie, symbolisiert durch die drei unterschiedlichen Medaillen, die Positionen auf dem Podium und die Nationalhymne des Siegers. Mit diesem Zeremoniell ist eine Symbolik eingeführt worden, die für alle teilnehmenden Länder verständlich ist. Das Gesicht der Besten erscheint in Großaufnahme, überblendet mit der Nationalflagge. In den Wettkampfhallen und auf den Sportplätzen lässt sich die Feierlichkeit dieser Zeremonie, mit Ausnahme des Olympiastadions, nur selten herstellen.

Zur Würdigung des Siegers gehört die Lobrede. In den Medien wird der Gewinner eines Wettkampfs als ein exemplarischer Held mit einem personalen Mythos dargestellt. Der mythischen Figur des Siegers werden übernatürliche Eigenschaften zugeschrieben, die als repräsentativ für seine ganze Gemeinschaft gelten. Auf Großaufnahmen von Olympiasiegern im Fernsehen und auf Fotografien werden sie – fast – zu Übermenschen.

Das Prinzip Wirklichkeit

In der direkten Begegnung nimmt man diese Aura allerdings nicht wahr. Es gibt eine entscheidende Differenz zwischen einem Geschehen, das von einem Publikum bezeugt wird, und einer Produktion durch die Medien. Die Zuschauerinnen am Ort des Geschehens sehen es mit eigenen Augen. Sie sind präsent, während es geschieht. Sie können es selbständig beurteilen und seine Bedeutung einschätzen. Wenn kein Publikum anwesend ist, sind die Halteseile an der Wirklichkeit gekappt – eine Wirklichkeit, die für unser Leben verbindlich ist.

In Tokio deutet sich an, was die Zukunft Olympias sein könnte. Dort wird ein entscheidender Schritt getan, der von einem realen Menschen zu einer fiktiven Person führt, zu einem imaginären Helden, einer idealen Werbeträgerin. Es ist eine Figur, bei der man sich nicht mehr fragt, ob es sie im wirklichen Lebens gibt. Sie existiert – aber nicht in derselben Welt wie wir. Der Sport der Helden und ihre Mythen bestimmen schon heute weitgehend unsere Wahrnehmung. Aber noch gilt mit der Präsenz des Publikums in den Stadien das Wirklichkeitsprinzip. Mit dem Ausschluss der Zuschauer von den Sportstätten bleibt der vielleicht letzte Wirklichkeitsgarant vor der Tür.

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