Im Weingeruch, im Rausch der Dinge

Postskriptum

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Im Weingeruch, im Rausch der Dinge

Postskriptum

Klagen über die Verflachung des öffentlichen Diskurses sind allgegenwärtig. Im Fernsehen wird noch jedes halb anspruchsvolle Thema von den Thea Dorns und Richard David Prechts weggeplaudert, die Zeitungen werden dünngespart, und in den sozialen Medien – na, Sie wissen schon.

Rechtfertigungsversuche gibt es auch – es soll ja nicht über die Köpfe des Publikums hinweggesendet werden, Gebühren zahlen schließlich alle, die gehobenen Blätter werden von voreingenommenen Meinungsmachern gesteuert, die ihren Leserinnen und Lesern bestimmte Haltungen aufdrängen wollen und ohnehin alle den gleichen Einheitsbrei verkochen. (Nebenbei bemerkt eine These, die kaum jemand vertreten kann, der auch nur eine Handvoll Leitartikel der überregionalen Blätter vergleicht. Auch jenseits der geistlosen Extreme lässt es sich vortrefflich streiten.)

Früher war natürlich mehr Lametta! Ende der 1940er- und zu Beginn der 1950er-Jahre fanden im Nachtprogramm der öffentlichen Rundfunkanstalten überaus anspruchsvolle Gesprächs- und Vortragsrunden statt, die auf das „Orientierungsbedürfnis bezüglich ‚Lebens- und Weltverhältnis‘ in Form von ‚Traditionsvergewisserung und Gegenwartsdiagnostik‘“ antworteten. Die damals bezeichnender­weise noch nicht so genannte Zielgruppe war nicht das „breite Laienpublikum“, sondern ganz ungeniert die „intellektuelle Elite Deutschlands“.

Daran erinnern die Soziologen Frank Meyhöfer und Tobias Werron in einem sattsam materialreichen Aufsatz über die Geschichte der deutschen Gegenwartsdiagnosen in der jüngsten Ausgabe des Mittelweg 36. Die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung feiert mit dem aktuellen Heft sein dreißigjähriges Jubiläum – ein Glücksfall nicht nur für den vielbeschworenen demokratischen Diskurs. Gemeinsam mit den angriffslustigen Blättern für deutsche und internationale Politik und dem gediegen horizonterweiternden Merkur, der Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, darf man sich unter ihnen die Lordsiegelbewahrer des geistigen Erbes, ja, der Gegenwart des Nachtprogramms vorstellen, die lebende Gegenthese des geistigen Verfalls.

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