Kein Lob der Bequemlichkeit

Noch fehlen die guten Geschichten über die Transformation der Wirtschaft. Auf die nächste Bundesregierung warten große Aufgaben

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PICTURE ALLIANCE | CHROMORANGE/CHRISTIAN OHDE
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Kein Lob der Bequemlichkeit

Noch fehlen die guten Geschichten über die Transformation der Wirtschaft. Auf die nächste Bundesregierung warten große Aufgaben

Wenn Tesla-Gründer Elon Musk dem Bau seiner Gigafabrik im brandenburgischen Grünheide einen Besuch abstattet, stehen Fans am Bauzaun. Die Boulevardpresse lichtet den Unternehmer mit Familie gerne beim Besuch in Berlin ab. Musk ist ein Star. Das zeigt, dass Wirtschaft Menschen auch im oft als technologiefeindlich gescholtenen Deutschland begeistern kann.

Eine Aufbruchstimmung ähnlich der rund um die geplante Produktion von Elektroautos und Batterien vor den Toren der Hauptstadt, lässt sich sonst im Land kaum feststellen. Die Stimmung ist eher gereizt. Die Wirtschaftsverbände beklagen einen gewaltigen Reform- und Investitionsstau. In Teilen der Jugend ist angesichts des Klimawandels Zukunftsangst ausgebrochen. Den einen geht die Transformation nicht schnell genug. Sie wollen den Umbau der Industrie baldmöglichst erzwingen. Die anderen befürchten Wohlstandsverluste durch den Klimaschutz. Von Chancen ist selten die Rede. Das beklagt auch der Soziologe Harald Welzer. „Das Ungleichgewicht in der Wahrnehmung entsteht dadurch, dass die Konsumgesellschaft pausenlos gute Geschichten über sich erzählt, während die Umwelt- und Klimabewegung nur Geschichten über den Untergang des Planeten und über Genügsamkeit verbreitet“, stellt er fest.

Weitgehend einig sind sich die Wirtschaftsverbände über den Reformbedarf nach der Bundestagswahl. Auf die künftige Regierung kommen gewaltige Herausforderungen zu. Zum Teil sind sie das Erbe der Ära Merkel, zum Teil der Pandemie geschuldet und zu einem Teil wohl auch die Quittung für zu viel Bequemlichkeit in guten Zeiten. Daran ist die Wirtschaft selbst nicht schuldlos, weil sie oft lange an alten Geschäftskonzepten festhielt und dadurch womöglich den Anschluss verpasste.

Die Forderungen der Wirtschaft an die künftige Regierung sind aus vielen früheren Wahlkämpfen hinreichend bekannt. Die Unternehmensteuern sollen runter, die Investitionen steigen. Die Verbände pochen auf bessere Rahmenbedingungen für Forschung und Entwicklung sowie den Abbau von bürokratischen Hemmnissen. Dabei schwingt gleichzeitig meist die Warnung mit, den für den Klimaschutz erforderlichen Umbau nicht zu schnell durchzusetzen. Dann, so die Botschaft, werde der Industriestandort Deutschland die Transformation bewältigen.

Doch wie lassen sich die Chancen der Transformation nutzen? Ein Schlüssel besteht in der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür sind sowohl hohe private als auch öffentliche Investitionen notwendig. Das Land braucht flächendeckend schnelle Internetzugänge. Der Mittelstand muss seinen Rückstand bei der Digitalisierung aufholen und die öffentliche Verwaltung ihre Dienste auch digital anbieten. Das Thema spielt auch bei der Verkehrswende eine bedeutende Rolle. Die Schieneninfrastruktur kann die erwarteten Kapazitäten nur aufbauen, wenn der Verkehr digital gesteuert wird. Das autonome Fahren wird erst möglich, wenn der Datenverkehr auf den Straßen sichergestellt ist. Die Effizienzgewinne durch digitale Technologien könnten am Ende größere sein als die Verluste durch die Aufgabe klassischer Geschäftsfelder.

Die zweite Großbaustelle sind Investitionen in den Klimaschutz. Die Zeit dafür wird allmählich knapp. Es fehlt ein Fahrplan, wann die Wirtschaft welchen Beitrag zu CO₂-Einsparungen leisten muss. Das bemängelt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). „Die Anlagen, die 2030 klimafreundlich produzieren sollen, stehen entweder schon, oder die Unternehmen müssen jetzt zügig über diese Investitionen entscheiden“, stellt BDI-Präsident Siegfried Russwurm fest. Die Politik rede viel über die Klimaziele, aber wenig darüber, wie sie zu erreichen sind.

Es muss nach der Wahl also vor allem schneller gehen mit der Transformation der Wirtschaft. Das Tempo wird durch bestehende bürokratische Hindernisse noch immer stark gedrosselt. Auch das haben unabhängig von der politischen Farbe fast alle erkannt. Die Genehmigungen für neue Gleisanlagen, Stromtrassen oder Fabriken dauern zu lange, auch wenn es mit dem Bau der Tesla-Fabrik eine positive Ausnahme gibt. Für den Ökonomen Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) ist die Besitzstandswahrung mächtiger Interessengruppen ein Bremsklotz. „Der Hauptgrund, weshalb Dinge nicht umgesetzt werden, liegt nicht darin, dass politische Institutionen unfähig sind“, sagt Fratzscher, „sondern weil mächtige Interessen dagegen stehen“. Das sei beim Wohnungsbau in den Städten ebenso der Fall wie beim Ausbau der Windenergie. Diese Besitzstandswahrung müsse aufgebrochen werden.

Es wird nach der Wahl auch darauf ankommen, die notwendigen Anreize für Investitionen zu schaffen. Fratzscher lehnt daher eine pauschale Absenkung der Unternehmensteuern ab. Stattdessen plädiert er für bessere Abschreibungsbedingungen, etwa die Sofortabschreibung von Investitionen. Auch eine Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen ist sinnvoll. Die große offene Frage ist allerdings, wie der Staat die gewaltigen anstehenden Ausgaben am Ende finanzieren will.

Über die zentralen Herausforderungen hinaus gibt es viele weitere wichtige Aufgaben, die in den kommenden Jahren angepackt werden müssen. „Wir haben einen riesigen Reformstau“, stellt Fratzscher fest. Das Bildungssystem muss modernisiert, die Sozialsysteme zukunftstauglich gestaltet werden und vieles mehr. Lohn könnte am Ende ein moderner Sozialstaat mit hohem Wohlstandsgrad sein. Doch von dieser Aufbruchstimmung ist Deutschland noch weit entfernt. „Man muss anders darüber reden“, glaubt Soziologe Welzer, „über gestalten, nicht verzichten.“ Davon ist im Wahlkampf leider wenig zu hören.

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