Präzedenzfall Putin

Wer den russischen Präsidenten verstehen will, sollte nach Syrien blicken

20
02
PICTURE ALLIANCE/DPA/SPUTNIK | SERGEY GUNEEV
Vladimir Putin
20
02
PICTURE ALLIANCE/DPA/SPUTNIK | SERGEY GUNEEV
Vladimir Putin

Präzedenzfall Putin

Wer den russischen Präsidenten verstehen will, sollte nach Syrien blicken

Der Westen rätselt. Was treibt Vladimir Putin außenpolitisch an? Welche Ziele verfolgt er und welche Mittel ist er bereit dafür einzusetzen? Antworten finden sich in Syrien – Putins längster und umfangreichster Auslandsintervention. Seit 2011 sichert Moskau dem durch einen bewaffneten Aufstand bedrängten Präsidenten Baschar al-Assad die Herrschaft. Dadurch hat Putin Russlands Position als Weltmacht wiederhergestellt, die Amerikaner als Ordnungsmacht im Nahen Osten beerbt und Moskaus militärische Präsenz im östlichen Mittelmeer und damit an der südlichen Nato-Flanke ausgebaut. Interessant ist, wie er das geschafft hat. Denn daraus lassen sich Schlüsse für Putins außenpolitisches Handeln anderswo ziehen.


1. Putin will Respekt.

Der russische Präsident will mit den Mächtigen dieser Welt auf Augenhöhe kommunizieren. Er führt ein Imperium und möchte entsprechend behandelt werden. Genau das hat er in Syrien erreicht – mit den drei Instrumenten, die ihm angesichts der wirtschaftlichen Schwäche Russlands zur Verfügung stehen: diplomatischem Gewicht, militärischer Stärke und Propaganda.

Als ständiges Mitglied im Weltsicherheitsrat hält Moskau seit elf Jahren seine schützende Hand über Machthaber Assad. Zwischen Oktober 2011 und Juli 2020 verhindert Russland mit seinem Veto 16 Resolutionen zu Syrien. Dadurch können Völkerrechtsverbrechen des syrischen Regimes nicht an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag überwiesen werden. Die milliardenschwere, zu 80 Prozent von den USA und Europa finanzierte UN-Hilfe wird vom Regime zum Machterhalt missbraucht. Denn Hilfsgüter müssen in Absprache mit Damaskus verteilt werden und erreichen deshalb nicht die bedürftigsten, sondern die besonders loyalen Syrer.

Nur die von Extremisten kontrollierte Provinz Idlib, Zufluchtsort für Millionen Assad-Gegner, erhält noch direkte humanitäre Hilfe aus dem Ausland – über den letzten von ursprünglich vier grenzüber­schreitenden Hilfskorridoren, die die UN für die Versorgung von Regionen außerhalb der Kontrolle des Regimes eingerichtet hatten. Diese cross-border-Hilfe muss alle sechs Monate vom Weltsicherheits­rat verlängert werden, dann bettelt der Westen bei Putin darum, humanitär helfen zu dürfen. Diplomatisch hat es der Kremlchef in Syrien weit gebracht.

Können Resolutionen nicht verhindert werden, weicht Russland sie inhaltlich so auf, dass sie seine Verbündeten absichern. Bestes Beispiel dafür ist Resolution 2254 aus dem Dezember 2015 – jenes UN-Dokument, auf das sich alle Akteure im Syrien-Konflikt bis heute berufen. Die Resolution ist das Ergebnis intensiver Gespräche zwischen Moskau und Washington, die im Oktober 2015 mit der Internationalen Syrien-Kontaktgruppe die einzig ernst gemeinte diplomatische Initiative zur Lösung des Konflikts ergreifen. Beide Länder sind damals bereits militärisch in Syrien engagiert – die USA seit September 2014 zur Bekämpfung des sogenannten Islamischen Staats (IS), Russland seit September 2015 zur Rettung Assads, der die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren hat. Außenminister Sergej Lawrow und sein damaliger Amtskollege John Kerry begegnen sich auf Augenhöhe – nur eineinhalb Jahre nachdem Präsident Barack Obama Russland im März 2014 als „Regionalmacht“ degradiert hatte.

Resolution 2254 fordert ein Ende der Angriffe auf Zivilisten, den ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe und die Freilassung von willkürlich verhafteten Personen. Monatelang bemühen sich Lawrow und Kerry um Deeskalation. Gemeinsam leiten sie zwei Verhandlungsgruppen, um die Gewalt einzudämmen und die Menschen humanitär zu versorgen. Ohne Erfolg. Der Krieg geht nicht nur weiter wie bisher, er eskaliert.

Russland wird nicht nur zum entscheidenden Partner dieser Kampagne, sondern zum game-changer des Krieges. Ab Sommer 2015 schickt Putin auf Bitten Assads Truppen und militärisches Gerät – auch in der Hoffnung, mit einem Engagement in Syrien seine ein Jahr zuvor durch den Krieg in der Ukraine und die Annexion der Krim ausgelöste internationale Isolation zu beenden. Damaskus gewährt Moskau die kostenlose und unbefristete Nutzung des Flughafens Hmeimim südöstlich von Latakia, den Putin zu einem russischen Luftwaffen­stützpunkt ausbauen lässt. Seit dem vergangenen Jahr können dort dank einer verlängerten Landebahn nuklearfähige Bomber stationiert werden.

Der Nachschub an Personal und Waffen läuft auch über den russischen Marinestützpunkt in Tartus, den Moskau schon seit 1977 unterhält. Er ist Russlands einziger Zugang zum Mittelmeer. Im Januar 2017 sichert sich Putin die Nutzungsrechte des Hafens für praktisch unbegrenzte Zeit, da sich die vertraglich vereinbarten 49 Jahre automatisch um jeweils 25 Jahre verlängern, wenn keiner der beiden Partner widerspricht. Der Standort ist für Putin von großer strategischer Bedeutung. Er garantiert dem Kreml Einfluss im östlichen Mittelmeer, mit dem er eine Nato-Vorherrschaft im Mittelmeerraum verhindern will. Von Tartus aus kann Moskau die südliche Flanke der Nato militärisch bedrohen und so einer Expansion des Bündnisses entgegenwirken.

Um sich Respekt zu verschaffen, bedient sich Putin in Syrien also unbeirrbarer Diplomatie, militärischer Entschlossenheit und medialer Unverfrorenheit.


2. Putin ist ein Taktiker, kein Stratege.

Obwohl es rückblickend so aussehen mag, hat der russische Staatschef 2011 keine langfristige Strategie für Syrien. Der Entschluss, Baschar al-Assad an der Macht zu halten, folgt auf die Muskelspiele der Nato in der Region, insbesondere in Libyen. Im März 2011 ermöglicht Moskau mit seiner Enthaltung im Weltsicherheitsrat eine Nato-Intervention in Libyen, die das Regime von Muammar al-Gaddafi wenig später wegbombt, obwohl sie laut UN-Mandat nur Zivilisten schützen sollte. Dies würde sich in Syrien auf keinen Fall wiederholen, beschließt Putin. Schließlich ist Assad Moskaus letzter Verbündeter in Nahost, nachdem die Region im Laufe der 2000er-Jahre mit Ägypten, Saudi-Arabien, Jordanien, dem Irak und dem Libanon fast vollständig unter amerikanischen Einfluss geraten war.

Putins Plan für Damaskus beschränkt sich also darauf, einen vom Westen unterstützten Regimewechsel zu verhindern. Der Kreml-Chef entwickelt sich zu Assads mächtigstem Schutzpatron, wird dadurch für alle Beteiligten unverzichtbar und hält am Ende die Fäden in der Hand. Dabei folgt Putin keinem starren Kalkül, er reagiert vielmehr auf aktuelle Ereignisse – je dynamischer diese sind, desto besser für Putin. Denn als kurzentschlossener Taktiker und Autokrat kann er jede Krise zu seinem Vorteil nutzen, während westliche Politiker die öffentliche Meinung berücksichtigen, ihre Parlamente miteinbeziehen und sich abstimmen müssen.

So gelingt Putin im September 2013 sein größter taktischer Coup. Nach den Giftgasangriffen auf die Vororte von Damaskus am 21. August, bei denen mehr als 1400 Menschen sterben, gerät US-Präsident Obama unter Zugzwang. Ein Jahr zuvor hat er den Einsatz von Chemiewaffen als rote Linie bezeichnet, jetzt will er einen Militärschlag unbedingt vermeiden, da er fürchtet, die USA könnten in einen weiteren endlosen Krieg hineingezogen werden. Putin hilft ihm aus der Klemme. Er verpflichtet das syrische Regime zur Abgabe und Vernichtung seiner Chemiewaffenbestände durch die OPCW und liefert Obama damit den willkommenen Vorwand, nicht angreifen zu müssen. Statt für die Vergasung von Hunderten Zivilisten bestraft zu werden, wird das Assad-Regime zum Partner, die Inspektoren der OPCW erhalten kurz darauf den Friedensnobelpreis und Putin erscheint als souveräner Krisenmanager.


3. Putin überschätzt sich nicht.

Bei allem, was Russland in Syrien unternimmt, kennt Putin seine Grenzen. Er kalkuliert genau und geht nur so viel Risiko ein, wie sich managen lässt.

Weil die Intervention in Syrien für die meisten Russen weit weg und somit unpopulär ist, achtet Putin darauf, eigene Verluste zu minimieren. Er begrenzt den Einsatz von Anfang an auf Militärberater, die Luftwaffe, einige Marineeinheiten und wenige Spezialkräfte – darunter Söldner der Gruppe Wagner, eines kremlnahen privaten Sicherheitsunternehmens, das russische Militäreinsätze unterstützt und auch auf der Krim im Einsatz war.

Den Krieg am Boden überlässt er anderen, allen voran dem Iran, der nach dem Vorbild der iranischen Revolutionsgarden die Nationalen Verteidigungskräfte (National Defense Forces) aufbaut. Diese effektive Söldnerarmee gleicht über Jahre die Defizite der unterfinanzierten und demoralisierten regulären Streitkräfte aus und erobert für Assad die oppositionellen Gebiete zurück. Ohne die russische Luftunterstützung würde dies jedoch nicht gelingen – insofern liefert Putin genau das, was das Regime braucht, ohne dafür zu viel zu riskieren: Expertise und moderne Technik mit möglichst wenig personellem Aufwand. Durch das Ausprobieren neuer Waffensysteme in Syrien hat die russische Armee deren Verkaufszahlen gesteigert und sich modernisiert. So erweist sich der Einsatz in Syrien als militärtechnische Vorbereitung für eine mögliche Konfrontation mit der Ukraine.


4. Putin handelt pragmatisch und flexibel.

Wie kein anderer Konflikt zeichnet sich der Syrienkrieg durch wechselnde Allianzen aus. Intervenierende Mächte halten sich nicht an langjährige Bündnisse, sondern gehen kurzfristige Zweck­gemein­schaften ein, um eigene Interessen durchzusetzen. Putin hat diese Fähigkeit perfektioniert.

Nach jahrelanger diplomatischer Zusammenarbeit mit den USA ruft Moskau Anfang 2017 in der kasachischen Hauptstadt Astana ein neues Gesprächsformat ins Leben. Putin setzt auf Verständigung mit den Regionalmächten Iran und Türkei, denn unter Donald Trump lohnen sich Gespräche mit Washington nicht, und die Europäer haben ohne Strategie und Handlungsbereitschaft in Syrien ohnehin nichts zu melden.

Die drei einflussreichsten Kriegsparteien sollen den Konflikt entschärfen, um die Chancen auf Verhandlungen zu erhöhen. Aus Waffenruhen werden „Deeskalationszonen“, die jedoch den Namen nicht verdienen, weil Russland und Iran an Assads Seite weiterkämpfen wie bisher, während die Türkei Anfang 2018 im Norden eine weitere Front gegen die Kurden aufmacht.

Im türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan findet Putin einen Sparringspartner. Beide spielen in Syrien mit hohem Einsatz und lieben dramatische Gesten, behalten aber, wenn es darauf ankommt, einen kühlen Kopf. Erdoğan hat sich zu Beginn des Aufstands von seinem früheren Freund Assad abgewendet und finanziert seit Jahren islamistische Milizen – die Türkei und Russland stehen in dem Konflikt also auf gegnerischen Seiten.

Dennoch arbeiten sie zusammen. In Idlib verspricht Putin, Assads Rückeroberungspläne zu bremsen, damit Millionen Binnenvertriebene nicht weiter in Richtung Türkei drängen, während Erdoğan Dschihadisten einhegen soll. Beides gelingt nicht. Im kurdisch geprägten, autonom verwalteten Nordosten fahren russische und türkische Soldaten gemeinsam Patrouille, um eine Pufferzone zwischen der Türkei und den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) aufrechtzuerhalten. Doch auch hier kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Das hochkomplexe und spannungsreiche Verhältnis zwischen den Autokraten funktioniert nur, weil beide extrem pragmatisch denken. Putin behandelt die verschiedenen Konflikte mit der Türkei getrennt voneinander – wenn die Lage in Idlib eskaliert, soll die türkisch-russische Zusammenarbeit östlich des Euphrats nicht darunter leiden. Auch Erdoğan verhindert, dass militärische Zusammenstöße an einem Ort die Beziehungen zu Russland andernorts in Syrien beeinträchtigen.

Nach elf Jahren Syrienkrieg befindet sich Putin in einer bequemen Position: In Damaskus sitzt ein Machthaber, der ihm in dankbarer Abhängigkeit ergeben ist und dem sich weite Teile der Welt früher oder später wieder zuwenden werden. Russlands Interessen im Nahen Osten scheinen deshalb mittelfristig gesichert. Ganz anders die Lage in der Ukraine: Denn in Kiew sitzt ein Präsident, der sein Land Richtung Westen führen will. Der größte Unterschied zwischen den beiden Konflikten ist für Putin der Faktor Zeit – in Syrien arbeitet sie für ihn, in der Ukraine gegen ihn.

Weitere Artikel dieser Ausgabe