Realpolitischer Anspruch und humanitäre Wirklichkeit

Editorial des Verlegers

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Realpolitischer Anspruch und humanitäre Wirklichkeit

Editorial des Verlegers

Liebe Leserinnen und Leser,

die Bilder des brennenden Flüchtlingslagers Moria auf Lesbos liegen mir bis heute schwer auf dem Magen – und es dürfte klar sein, dass es mit dem Bau eines neuen Lagers einige Kilometer weiter und einigen auf griechische Festland oder nach Europa verschifften Geflüchteten getan sein wird, und wir zum üblichen (Corona-) Alltag zurückkehren können oder sollten. Der Brand ist ein Menetekel der europäischen Flüchtlingspolitik – ganz gleich, auf welcher Seite man sich im – gemäßigten – politischen Spektrum einordnet.

Für den Hauptstadtbrief am Sonntag konnten wir in dieser Woche eine Expertin gewinnen, die sich in Theorie und Praxis mit den Fragen beschäftigt hat, die über wohlfeile Thesen und Twitter-Aktivismus weit hinausgeht. Ramona Lenz von medico international, der Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation, fragt nach den Auswirkungen von Flucht und Migration, die das europäische Grenzregime auf Menschen an den EU-Außengrenzen und weit darüber hinaus hat. Lenz warnt vor den sogenannten Deals mit Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan, die auf dem Papier realpolitische Vernunft suggerieren, in der Wirklichkeit aber kaum funktionieren, nicht nur weil hasardeurhaft agierende Quasi-Diktatoren unsichere Kantonisten sind. Menschen können auch nicht einfach zur Verhandlungsmasse werden, „steuernd in Flucht- und Migrationsbewegungen andernorts einzugreifen, ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen“ sei keine tragfähige und humane Strategie.

Im zweiten Beitrag des Hauptstadtbriefs widmet sich unser Korrespondent aus Wien, Klaus Prömpers, den Vereinten Nationen, die in diesen Tagen 75 Jahre alt werden. Es ist eine Institution, die mit einem ebensolchen Anspruch angetreten ist, institutionelle Theorie und unmittelbare Praxis zu verbinden. Prömpers beschreibt Erfolge und Niederlagen der Vergangenheit und Gegenwart – und kommt zu ebenjenem Fazit, gegen das die falschen Bescheidwisser und Fanatiker der Eindeutigkeit so gerne anstinken wollen: Es ist ein mühsames Geschäft, oft vergeblich, aber doch unverzichtbar – für die Einhaltung des Völkerrechts, zum Schutz der Menschenrechte und zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit – wie es die Vereinten Nationen im Oktober 1945 auf die Fahnen schrieben.

Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen bis zur nächsten Woche

Ihr Detlef Prinz

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