Schafft endlich die Geheimwahl ab!

Lehren aus den Thüringer Regierungspossen um die Auflösung des Landtags

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PICTURE ALLIANCE/DPA/DPA-ZENTRALBILD
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Schafft endlich die Geheimwahl ab!

Lehren aus den Thüringer Regierungspossen um die Auflösung des Landtags

Die Thüringer Possen nehmen kein Ende. Nach der „versehentlichen“ und später „zurückgenommenen“ Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD im Februar 2020 haben die Rechtspopulisten mit dem Konstruktiven Misstrauensvotum gegen Bodo Ramelow jüngst erneut einen publikumswirksamen Versuch unternommen, den politischen Gegner vorzuführen. Dabei machten sie sich einen Umstand zunutze oder besser: wollten ihn sich zunutze machen, der schon seinerzeit in den Kommentaren wenig beachtet wurde, nämlich die Bestimmung, dass die Wahl des Ministerpräsidenten in geheimer Abstimmung stattfindet.

Das Kalkül, das die AfD verfolgte, lag auf der Hand. Hätte ihr Kandidat Björn Höcke mehr als die 22 Stimmen der eigenen Abgeordneten bekommen, wäre die These der stabilen demokratischen „Brandmauer“ zum Rechtspopulismus und -extremismus erschüttert worden. Bei einem etwas genaueren Blick in die Geschichte der erfolgreichen und nicht erfolgreichen Misstrauensvoten in der Bundesrepublik (auf Bundes- wie Länderebene) hätte Höcke freilich vorausahnen können, warum sein Plan nicht aufgeht. Indem nämlich die CDU-Fraktionsführung ihre Abgeordneten vorsorglich darauf verpflichtete, die Abstimmung zu boykottieren, also gar nicht an ihr teilzunehmen, war die Gefahr möglicher Abweichler aus den eigenen Reihen gebannt – die AfD stand so am Ende mit ihren 22 Stimmen allein da.

Kurze Geschichte der Misstrauensvoten

Dieselbe Strategie hatte der legendäre SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner im Bundestag bereits 1972 verfolgt, um das von der CDU/CSU angestrengte Misstrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt zum Scheitern zu bringen – wie man weiß, erfolgreich. Wehner orientierte sich dabei seinerseits an einem noch länger zurückliegenden Fall in der Hamburger Bürgerschaft, wo 1956 ein von der SPD initiiertes Misstrauensvotum durch den Abstimmungsboykott der CDU-Fraktion abgewehrt worden war. Mithilfe des Koalitionspartners FDP wurde die Strategie 1972 sogar noch „verfeinert“: Indem diese eine kleinere Zahl von „sicheren“ Abgeordneten ins Rennen schickte, sollten potenzielle Abweichler auf der Gegenseite vor „Entdeckungsgefahr“ geschützt und zur Stimmabgabe für Brandt ermuntert werden.

Die Thüringer Regierungsparteien haben das Verhalten der CDU zu Recht kritisiert. Abstimmungsboykotte unterminieren das grundgesetzlich verbriefte freie Mandat des Abgeordneten. Dennoch ist die Kritik etwas scheinheilig. Die CDU hat ihr Vorgehen damit gerechtfertigt, dass die Regierungsparteien bei einer vollständigen Teilnahme an der Abstimmung hätten versucht sein können, ihr zusätzliche Höcke-Stimmen „unterzujubeln“, was diese selbstverständlich empört zurückwiesen. Dennoch wäre ihre Kritik glaubwürdiger, wenn sie die institutionelle Ursache der gegenseitigen, Misstrauen erweckenden Verdächtigungen zumindest mitbedenken würde, nämlich das Festhalten an der geheimen Stimmabgabe.

Ins Offene

Bei einer offenen Abstimmung, wie sie in den Parlamenten bei allen Gesetzesentscheidungen und sonstigen Beschlüssen üblich und aus demokratischer Sicht geboten ist, wären weder die jetzige Posse noch die Wahl Kemmerichs vor einem Jahr in dieser Form möglich gewesen. Bei der Ministerpräsidentenwahl hatte die AfD ihren eigenen Kandidaten im dritten Wahlgang bekanntlich nur zum Schein aufgestellt, um unter dem Deckmantel der Geheimwahl unentdeckt für Kemmerich stimmen zu können, was dem FDP-Politiker zusammen mit den eigenen und den CDU-Stimmen die Mehrheit einbrachte.

Die geheime Abstimmung ist mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar, weil sie die Abgeordneten von der Pflicht entbindet, für ihr Verhalten einzustehen, es vor der Wählerschaft zu rechtfertigen. Sie lässt sich auch nicht – obwohl dies immer wieder behauptet wird – mit dem Schutz des freien Mandats rechtfertigen, das ansonsten ja auch durch die offenen Abstimmungen über die Gesetze bedroht wäre. Der verfassungsrechtliche und -politische Widersinn der Geheimwahl lässt sich zugleich daran ablesen, dass sie beim Konstruktiven Misstrauensvotum – das gleichbedeutend mit der Wahl eines Regierungschefs ist – greift, nicht aber, wenn der Regierungschef selbst die Vertrauensfrage stellt.

Einfach, relativ, verwerflich, gewollt

Der letztgenannte Aspekt verweist auf ein weiteres Problem des Thüringer Falls. Ursprünglich hatten sich die Regierungsparteien ja mit der Union auf die Herbeiführung vorgezogener Neuwahlen im Wege einer Selbstauflösung des Parlaments verständigt, wofür laut Verfassung eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Das Vorhaben scheiterte, weil die CDU nicht in der Lage war, der Regierungsseite die nötigen Stimmen fest zuzusagen, Linke, SPD und Grüne aber ihrerseits darauf bestanden, dass eine Mehrheit für die Auflösung ohne die Stimmen der AfD zustande kommt. Warum hat Ramelow dann nach der Ankündigung der CDU, die bis zu den jetzt geplatzten Neuwahlen verabredete Tolerierung von Rot-Rot-Grün zu beenden, nicht einfach die Vertrauensfrage gestellt und so den Weg für eine Parlamentsauflösung mit lediglich einfacher Mehrheit frei gemacht?

Die Antwort gibt Art. 50 Abs. 2 der Thüringer Verfassung, der dem Landtag die Möglichkeit offenlässt, bei einer abgelehnten Vertrauensfrage innerhalb von drei Wochen einen neuen Ministerpräsidenten zu wählen. Weil dafür im dritten Wahlgang bereits eine relative Mehrheit genügt (sogar eine Wahl mit nur einer Stimme wäre theoretisch denkbar), könnte die Wahl eines AfD-Kandidaten dann nur durch einen Gegenkandidaten verhindert werden, der nach Lage der Dinge natürlich wieder Bodo Ramelow hieße. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es von der Regierungsseite tatsächlich klug war, auf einer eigenen Zweidrittelmehrheit der demokratischen Parteien bei der Selbstauflösung zu beharren.

So verwerflich es gewesen ist, vor einem Jahr einen Ministerpräsidenten mit AfD-Stimmen ins Amt zu bringen, so wenig verwerflich wäre es jetzt, die AfD-Stimmen bei der Auflösungsentscheidung „mitzunehmen“, wo doch diese Entscheidung im Prinzip von allen demokratischen Parteien gewollt ist. Dass die AfD bei der Abstimmung erneut das Spielchen spielen könnte, gegen ihre eigene Ankündigung zu stimmen, sich also Neuwahlen zu verweigern, ist kaum anzunehmen, da über die Auflösung – anders als über die Wahl des Regierungschefs – in offener Abstimmung entschieden wird.

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