Schluss mit den Selbstfindungs­sperenzien

Europa braucht einen wertegebundenen Realismus. Zur Europa-Debatte im Hauptstadtbrief

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PICTURE ALLIANCE/AA | DURSUN AYDEMIR
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PICTURE ALLIANCE/AA | DURSUN AYDEMIR

Schluss mit den Selbstfindungs­sperenzien

Europa braucht einen wertegebundenen Realismus. Zur Europa-Debatte im Hauptstadtbrief

Die innere Gestalt Europas muss den Herausforderungen gerecht werden, denen wir gemeinsam gegenübersehen. Denn Europa ist ziemlich klein geworden in einer Welt, die schon neu vermessen ist und sich mit großer Geschwindigkeit weiter verändert.

1989/1990 und danach sahen ja manche das Ende der Geschichte gekommen, der Westen hatte „gesiegt“ und Europa hatte den größten Gewinn davon, zumal wir in Deutschland.

Tatsächlich war Europa der größte Wirtschaftsraum, mit seinen fast 30 Prozent der weltwirtschaftlichen Leistung. Heute nähert sich Europas Anteil an der weltwirtschaftlichen Leistung 15 Prozent. Im gleichen Zeitraum hat sich der Anteil der USA von rund 20 Prozent verringert auf weniger als 15 Prozent. Asien wuchs, vor allem China, und das mit rasantem Tempo. In Kaufkraftparitäten ist China heute die größte Volkswirtschaft.

Ist das bedrohlich? Nein, ganz im Gegenteil, es ist für die Menschen im Fernen Osten und manchen Ländern Afrikas (dort sind es leider noch zu wenige) zunächst einmal ein Glück. Der wirtschaftliche Aufschwung bedeutet, dass viele ein Dach über dem Kopf haben, zunehmend bessere Systeme in Bildung und Gesundheit, wachsende Einkommen – kurz: ein besseres Leben, frei von Hunger und Not für immer mehr Menschen. Es wäre auch in Europa angezeigt, Politik wieder mehr von den Menschen her zu denken.

In Europa leben gerade einmal sieben Prozent aller Menschen, bald werden es fünf Prozent sein. In Asien werden in einer Generation rund 60 Prozent der Menschen leben, in Afrika 22 Prozent. Allein Nigeria wird dann mit 400 Millionen Einwohnern größer sein als die USA und fast so bevölkerungsreich wie Europa.

Die Brookings Institution, ein renommierter US-amerikanische Think Tank, rechnet vor: Die europäische Mittelklasse tätigte 2020 über 27 Prozent der weltweiten Ausgaben (fast viermal so viel wie der Anteil an der Weltbevölkerung); bis 2030 wird dieser Anteil sinken auf 20 Prozent. Im asiatisch-pazifischen Raum wird der Anteil bis 2030 von 43 auf 57 Prozent steigen.

Bevölkerung; Wirtschaftswachstum, Kaufkraft – das alleine definiert natürlich nicht die Herausforderungen und Chancen der Zukunft. Die weltweiten Herausforderungen des Klimawandels, die Gefahr durch Massenvernichtungswaffen oder terroristische Anschläge lassen sich nur bewältigen mit weltweiter Kooperation.

Europa ist durchaus handlungsfähig in der WTO, aber was ist mit den Vereinten Nationen selbst, was mit anderen globalen Institutionen wie der Internationalen Arbeitsorganisation? Wo gekauft wird, da sollte auch produziert werden – deshalb war die Entscheidung von Volkswagen unter Carl Hahn jun. so bahnbrechend, in China zu produzieren; das gilt für viele deutsche und europäische Unternehmen.

Was aber ist mit den Standards und Normen, die internationale Arbeitsteilung und gemeinsamen Wohlstand erst ermöglichen? Noch ist Europa, namentlich Deutschland, dort führend. Aber mehr Kooperation ist dringend geboten, gerade mit den aufstrebenden Volkswirtschaften. Europäische Initiativen in dieser Hinsicht sind dürftig – man beschäftigt sich zu viel mit sich selbst anstatt mit der Welt; und wenn man sich mit der Welt beschäftigt, dann muss Europa – und namentlich Deutschland – weg vom „moralischen Appell“, hin zu einem wertegebundenen Realismus.

Dafür nur ein Beispiel: Wir wollen weg von fossilen Energieträgern. Es ist aber klar, dass zum Beispiel Deutschland weder die Fläche noch ausreichend Wind und Sonne hat, um sich selbst zu versorgen – eine Wirtschaft ohne fossile Energieträger erfordert in Deutschland mindestens die vierfache Menge Strom gegenüber heute. Also brauchen wir – wie bisher – Importe, in Sachen Rohstoffe ist es ja nicht anders.

Eine umfassende europäische Strategie für eine industrielle Energiepartnerschaft, zum Beispiel mit dem nördlichen Afrika, gibt es bisher nicht. Für uns in Europa und in Deutschland allemal, gilt: Wir sind leider besser im Adieu-Sagen als im Willkommen-Heißen.

Europa kann – und muss – Begeisterung für sich selbst und für die Zukunft entfachen. Seine innere Verfasstheit muss den großen Chancen und Herausforderungen gerecht werden, die die Welt uns bietet und auch abverlangt. Die Welt wird nicht warten auf ein Europa, das in Selbstfindung verweilt.

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