Tag der Schande

Die Lage der amerikanischen Demokratie ein Jahr nach dem Sturm auf das Kapitol

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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | TOM BRENNER
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PICTURE ALLIANCE/REUTERS | TOM BRENNER

Tag der Schande

Die Lage der amerikanischen Demokratie ein Jahr nach dem Sturm auf das Kapitol

Den 6. Januar 2021 habe ich am Fernseher verbracht, zunehmend geschockt durch das, was ich da auf Capitol Hill sah: einen veritablen Putschversuch der von Donald Trump geführten extremen Rechten. Der damals gescheiterte Coup d’Etat machte die schwelende Verfassungskrise sichtbar, und er nährt die Befürchtung, dass eine weniger stümperhafte Wiederholung in Vorbereitung ist. Es ist kein Alarmismus, wenn ein großer Teil der US-Bevölkerung in Umfragen einen Bürgerkrieg kommen sieht, der sich an lokalen Brennpunkten längst entzündet hat. Der mit der Aufklärung der Ereignisse betraute Kongressausschuss hat wenig erreicht, kaum ein Protagonist und kein einziger der Hintermänner wurde strafrechtlich belangt.

Oft werden diese Konflikte als Zeichen einer wachsenden Polarisierung der US-Gesellschaft gedeutet, dabei handelt es sich um einen von der extremen Rechten innerhalb und außerhalb der Grand Old Party (GOP) der Republikaner betriebenen Angriff auf die Stützpfeiler der Demokratie. Auslöser und Movens der demokratischen Regression war nämlich die Infragestellung des Wahlergebnisses vom 8. November 2020, einer klaren Niederlage Donald Trumps, die von der breiten Mehrheit der GOP-Anhänger nicht hingenommen wurde.

Generell vertrauen nun weniger als zwei Drittel der Amerikaner noch auf die Fairness von Wahlen; ebenso viele erwarten, dass die anstehenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen nicht korrekt ablaufen könnten. Allgemeine, gleiche, freie und faire Wahlen bilden nun aber den Kern demokratischer Repräsentation.

Die meisten defekten Demokratien haben sich nach 2000 nicht (sofort) in regelrechte Diktaturen verwandelt, sondern in „elektorale Autokratien“. So heißen Regierungssysteme, deren autoritäre Präsidenten und Premierminister sich mehrfach Wahlen gestellt haben und auf eine relative demokratische Mehrheit verweisen können. Trump behauptet das ebenfalls, um den Preis der völligen Delegitimation der Wahlprozedur.

Wenn ihm Wähler darin folgen, liegt das auch an lange vorhandenen Dysfunktionen des Wahlsystems, deren Ausweis eben jene Prozedur war, die der ins Kapitol gestürmte Mob verhindern wollte: die Bestätigung des Wahlergebnisses, das zuvor durch ein anachronistisches Wahlmännergremium festgestellt worden war, durch den Senat. Wahlen in den USA sind auch in anderer Hinsicht nicht mehr allgemein, gleich und frei. Dazu zählen die willkürliche Zuschneidung der Wahlbezirke (gerrymandering), die umständlichen, bewusst gegen ethnische Minderheiten und soziale Unterschichten eingesetzten Registrierungsprozeduren, die für eben diese nachteilige Platzierung von Wahllokalen, die Behinderung der besonders von Demokraten genutzten Briefwahl. Unfair sind die Wahlen durch das Erfordernis von faktisch unbegrenzten Geldspenden für den Gewinn von Wahlen, die gezielte Manipulation der Wählerschaft durch soziale Netzwerke der Big-Tech-Unternehmen und Cybertattacken russischer- und chinesischerseits. Das Mediensystem wirkt als Verstärker parteipolitischer Agitation, wobei die Trump zuneigenden TV- und Radio-Shows ein wahres Eldorado für Fake-Nachrichten, Verschwörungstheorien und hemmungslose Agitation darstellen.

Besonders besorgniserregend sind die auf Basis des Vorwurfs der „gestohlenen Wahl“ unternommenen Versuche republikanisch geführter Staaten, die Kontrolle über den Wahlprozess, die Auszählung der Stimmen und die Zusammensetzung der Kontrollkommissionen zu gewinnen. Die „spontane“, in Wahrheit durch Trump („it’ll be wild!“) initiierte Kongressbesetzung wird durch die Gesetzgebung in Battleground-Staaten zum legalen Staatsstreich ausgebaut. Das konservativ beherrschte Oberste Verfassungsgericht (Trump konnte drei neue auf Lebenszeit berufene Richter nominieren), das reguläre Wahlen zu garantieren hätte, machte sich in jüngsten Entscheidungen eher zum Gehilfen der Wahlbehinderung; die von den Demokraten eingebrachte Reform des Electoral Count Act von 1887 verzögert die Republikaner-Minderheit durch das undemokratische Instrument des Filibusterns.

Da die Republikaner genau wissen, dass sie seit Jahrzehnten keine reale Mehrheit in der US-Bevölkerung haben, stärken sie das Wahlmännergremium und liefern es, wie jetzt in Arizona, einfachen Mehrheiten in den Parlamenten der Bundesstaaten oder dem Zugriff eines parteiischen Gouverneurs aus. Jene Republikaner, die den Staatsstreich 2020 noch verhindert haben, wurden aus ihren Aufsichtsämtern entfernt; Trump ersetzt sie landesweit durch Kollaborateure.

So nimmt der Verrat der Konservativen an der Demokratie seinen weiteren Lauf, wobei insbesondere die fast absolute Loyalität der weißen evangelikalen Basis ins Gewicht fällt, bei der immer weniger religiöse Motive und immer mehr rassistische Überzeugungen der bedrohten weißen Suprematie zählen. Der abgewählte Ex-Präsident hält die republikanischen Abgeordneten des Kongresses in Schach, er führt als Kandidat in Umfragen meilenweit vor möglichen gemäßigten Bewerbern, und in den Einzelstaaten werden sich bei Vorwahlen überwiegend seine Getreuen durchsetzen. Die Kriegskassen sind prall gefüllt, und die Pandemie verstärkt die haltlose Agitation und die Verschwörungsmythen.

Angesichts der schwachen Zustimmungswerte für den mit dem Rücken zur Wand kämpfenden Präsidenten Joe Biden und die fast belanglose Vizepräsidentin Kamala Harris erscheint – Stand Januar 2022 – die Niederlage der Demokraten bei den Zwischenwahlen dieses Jahres kaum mehr abzuwenden. Die Obstruktion des demokratischen Senators Joe Manchin hat den möglichen Erfolg des milliardenschweren „Build Back Better“-Programms, das sozial- und umweltpolitische Maßnahmen und eine umfassende Infrastrukturreform auf den Weg bringen sollte, verwässert und kompromittiert.

Trump ist wieder da? Er war nie wirklich weg. Von Mar-a-Lago aus feiert er den 6. Januar als Etappensieg. Der Tag hat in der breiten amerikanischen Bevölkerung nicht die Aufklärungs- und Warnfunktion gehabt, die diesem Tag der Schande angemessen gewesen wäre. Die meisten haben den Schuss nicht gehört und andere Sorgen.

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