Und sie bewegt sich doch

Mehr als hohe Töne – die Europäische Union funktioniert besser, als ihre Kritiker ihr zugestehen

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ZUMAPRESS.COM | NICOLAS LANDEMARD
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Und sie bewegt sich doch

Mehr als hohe Töne – die Europäische Union funktioniert besser, als ihre Kritiker ihr zugestehen

Der Beitrag des langjährigen Leiters des ARD-Studios in Brüssel, Rolf-Dieter Krause, im Hauptstadtbrief vom vorigen Sonntag bedarf einer Erwiderung.

Klar, an der EU lässt sich manches kritisieren, und wer vor Ort in Brüssel agiert, braucht häufig ein hohes Frustrationsvermögen. Die Vereinigung von Völkern und Staaten in Europa ist ohne Blaupause und historisch einmalig.

Nach 70 Jahren lässt sich jedoch feststellen: Die Europäische Union ist ein Erfolgsprojekt für die Menschen in Europa und dient mittlerweile als Beispiel für ähnliche Anstrengungen auf anderen Kontinenten, siehe etwa die Afrikanische Union.

Mit einem Rundumschlag geißelt Krause die am 9. Mai in Straßburg eröffnete „Konferenz zur Zukunft Europas“ als gehobene Zeitverschwendung und untauglichen Versuch, in einen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu kommen. Regelrecht garstig ist der Satz, Tatsache sei, dass das politische Personal der EU nicht wirklich interessiere, was die Menschen in der EU dächten.

Das ist starker Tobak und meines Erachtens auch falsch. Zunächst einmal: Was denken die Bürgerinnen von Finnland bis Portugal und von Bulgarien bis Irland? Und wer sind die EU-Politiker? Sprechen wir nur von der Brüsseler Bande – oder auch von denen in Berlin, Paris, Rom und anderen Hauptstädten? Wenn es doch nur so einfach wäre mit dem beschworenen Bürgerwillen in Europa!

Die europäische Einigung bewegte sich lange Zeit auf der Spur eines Europas der Staaten und mithin ihrer Regierungen. Im Laufe der Jahrzehnte ist die EU dennoch mehr und mehr zu einem Europa der Bürger und Bürgerinnen geworden.

Der vor zehn Jahren in Kraft getretene Vertrag von Lissabon spricht von einer zugleich repräsentativen als auch partizipativen Demokratie auf EU-Ebene. Schritt für Schritt ist die demokratische Infrastruktur ausgebaut worden, von den Direktwahlen zum Europäischen Parlament bis zur Europäischen Bürgerinitiative, von den Petitionsrechten bis zu den Konsultationsrechten bei den Gesetzen, Programmen und Initiativen der EU. Keine Frage, noch immer fehlen wichtige Instrumente für eine vollständige EU-Demokratie.

Der Einfluss der öffentlichen Meinung und die Arbeit der Zivilgesellschaft mit den vielen Nichtregierungsorganisationen (NGO) hat die europäische Politik in den vergangenen Jahren spürbar geprägt. Die Abschaffung der Roaming-Gebühren, die Einführung von Fahrgastrechten bei Flug- und Bahnreisen, der Schutz der persönlichen Daten, die Nicht-Diskriminierung und Gleichstellung der Geschlechter – die Liste der Vorteile für die Menschen durch die EU-Politik ließe sich beliebig fortführen.

„Die EU betreibt hochtrabendes Gewese, verwaltet aber politisch bloß den Stillstand“, heißt es bei Krause für mich etwas engherzig im Untertitel. In der Tat ist die EU kein Rennpferd, sie kann es angesichts der Mitentscheidung von 27 Ländern auch gar nicht sein. Die EU ist kein Staat, sondern ein Staatenverbund, wie es das Bundesverfassungsgericht definiert hat. Wo keine Einstimmigkeit mit dem Vetorecht eines einzelnen Landes existiert, entscheidet die EU aber auch nicht langsamer als die Bundesrepublik oder andere föderale Staaten. Das lässt sich bei der Gesetzgebung im Umwelt- und Verbraucherschutz sehr gut zeigen. Da ist die EU oft Vorreiter mit ihren Zielsetzungen und Standards.

Das Vetorecht abzuschaffen ist eines der großen Reformvorhaben, auch bei der laufenden Zukunftskonferenz. In der Außen- und Sicherheitspolitik, auch in einigen Bereichen der Steuerpolitik, etwa der Mindestbesteuerung von Unternehmern und der Besteuerung der mächtigen Internetgiganten, ist dies auch dringend nötig.

Hart, und ich meine zu hart geht Rolf-Dieter Krause mit den bisherigen Versuchen der EU-Institutionen zur Ermittlung des Bürgerwillens ins Gericht. Die seit einigen Jahren bestehende Europäische Bürgerinitiative hat durchaus zur Veränderung von EU-Gesetzen geführt, so beim Gewässerschutz und der Käfighaltung von Nutztieren. Etliche Initiativen wurden nicht anerkannt, weil die EU für das jeweilige Anliegen schlichtweg nicht zuständig ist. Wenn etwas im Nationalstaat schiefläuft, gibt es häufig falsche Erwartungen, die EU möge das doch bitte erledigen.

Die Europäische Kommission ermittelt mit dem EUROBAROMETER regelmäßig die Meinungen zu den großen aktuellen Themen, ohne dass damit direkte Handlungsanweisungen verbunden sind. Das wollte Jean-Claude Juncker ändern und fiel mit der Online-Befragung zur Abschaffung der Sommerzeit zugegebenermaßen auf die Nase. Europa hat nicht wie die USA einen Präsidenten, der von oben herab verordnen kann, was die Mitgliedstaaten zu befolgen hätten. So bleibt es vorerst weiterhin bei der Umstellung von Sommer- und Winterzeit.

Mit der „Konferenz zur Zukunft Europas“ wird ein neuer und innovativer Ansatz verfolgt, mit den Bürgerinnen und allen staatlichen Ebenen über die Entwicklung unserer Gesellschaften und unseres Kontinents nachzudenken und Empfehlungen für die Politik zu geben. Rolf-Dieter Krause meint, „tiefgründige Gedanken zur Zukunft Europas sind vergebliche Liebesmüh“. Er schreibt den Erfolg der Konferenz schon ab, bevor die Arbeit richtig begonnen hat.

Das sehe ich anders. Der jüngste große Ratschlag in der EU war der Konvent zur Erarbeitung einer Europäischen Verfassung vor fast 20 Jahren. Was ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten nicht alles passiert? Die Bankenkrise und die Erschütterung des Euro-Raumes, die Flüchtlingskrise und die Dramen der Aufnahme und Integration dieser Menschen, die Coronapandemie und die Entdeckung der Defizite grenzüberschreitender Gesundheitspolitik, der islamistische Terrorismus in und um die EU, die Klimakrise, die Herausforderungen durch China und Russland, Recep Tayyip Erdoğan und Viktor Orbán.

Es gibt wahrlich viel zu diskutieren bei der Zukunftskonferenz. Nicht zu vergessen die vielen internen Baustellen der EU. Die Stärkung des Europäischen Parlaments mit einem eigenen Initiativrecht und einem Untersuchungsrecht zur Aufdeckung von Fehlern und Skandalen. Die Europäisierung der Europawahlen mit transnationalen Wahllisten und der Verankerung des Modells von Spitzenkandidatinnen für die Wahl des Kommissionspräsidenten.

Der Verfassungskonvent von 2002 war noch exklusiv besetzt mit Vertretern der Parlamente, der Regierungen und der Kommission. Die Zukunftskonferenz 2021 startet mit einer multilingualen Online-Plattform, offen für Ideen und Vorschläge aller EU-Bürger, mit Veranstaltungen in vielen Kommunen und mit speziellen Panels mit mehreren Hundert zufällig ausgewählten Menschen aus allen Teilen der EU.

Ich bin sicher, dass diese Debatten wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung der Zusammenarbeit auf unserem Kontinent geben werden. Das ist aller Mühe wert und keinesfalls vergebens.

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