Wo bleibt die deutsche Initiative?

Die Infektionszahlen in Europa steigen wieder, aber Berlin bleibt beim Prinzip Durchwurschteln

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SHUTTERSTOCK/IRINA SHATILOVA
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SHUTTERSTOCK/IRINA SHATILOVA

Wo bleibt die deutsche Initiative?

Die Infektionszahlen in Europa steigen wieder, aber Berlin bleibt beim Prinzip Durchwurschteln

Die Absage meiner ehemaligen Studienfreundin aus Frankreich kommt diese Woche kurzfristig per SMS und ohne Vorankündigung: „Ich kann nicht kommen, was sind das nur für Zeiten?“ Das Berliner Robert-Koch-Institut (RKI) hat an dem Tag ihre Stadt im Nordwesten Frankreichs zum Corona-Risikogebiet erklärt. Das örtliche Krankenhaus kann das Ergebnis des Corona-Tests nicht sofort liefern, das ihr die Reise nach Berlin ohne Quarantäne-Auflagen doch noch erlaubt hätte. Die Dienstreise: abgesagt. Und damit ihre Teilnahme an einer wichtigen jährlichen Sitzung, an der die Wissenschaftlerin als einzige Vertreterin aus Frankreich hätte teilnehmen sollen. Gut, könnte man sagen, Videokonferenzen kennen wir ja jetzt alle. Doch die können nicht jedes Treffen ersetzen. Hin und wieder ist es doch wichtig, sich in die Augen zu schauen. So auch hier.

Man könnte dieses kleine Beispiel aus der Lebenswirklichkeit in Europa dieser Woche abtun damit, dass die Pandemie all diese Einschränkungen eben erfordert. Doch wir leben nicht mehr im Februar oder März, sondern im Herbst 2020. Viel Zeit ist vergangen, in der die deutsche Regierung eine gemeinsame Linie zum Leben im Alltag aller Europäer in der Pandemie mit ihren Partnern hätte erarbeiten können. Das ist nicht passiert. Denn wieder einmal schreckt diese Bundesregierung davor zurück, ihrer Führungsrolle in dieser Europäischen Union gerecht zu werden. Der deutsch-französische Motor steht still, wenn es um die Lebenswirklichkeit der Menschen geht.

Dabei ist in diesen bald acht Monaten auch viel Gutes passiert: Deutschland ist besser durch die Pandemie gekommen als die meisten anderen Partner in der EU. Viele Menschen in der Welt schauen auf Berlin und fragen sich: Wie haben die das nur gemacht?

Doch statt diese Softpower in einen Führungsanspruch umzumünzen und diesen dann auch zum Wohle aller einzusetzen, geschieht das Gegenteil. Die europäischen Corona-Meldungen des RKI haben einen gewissen, nun ja, imperialen Beigeschmack. Als die Infektionszahlen vor wenigen Wochen im Südosten Frankreichs wieder steigen, zunächst in den Großstädten Marseille und Nizza, war das RKI schnell dabei, die gesamte Region Provence-Alpes-Côte d’Azur zum Risikogebiet zu erklären – und damit gleich noch mehrere französische Départements in dieser Region, die nicht oder nur wenig betroffen waren. Darunter auch das Département Var.

Dort besucht Ende August Bundeskanzlerin Angela Merkel den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in dessen Sommerresidenz Fort de Brégançon. Die Kanzlerin weiß, dass es neben all den Videokonferenzen gut ist, sich hin und wieder auch in die Augen schauen zu können. „Europa ist nur dann stark, wenn es mit einer Stimme spricht“, sagt Merkel nach dem Treffen, es gehe darum, dass „wir unsere Agenda sehr eng abstimmen können“.

In der Tat, das wäre der Lebenswirklichkeit der Menschen in Europa zuträglich.

Die Europäische Union verfügt nach dem aktuellen Vertrag von Lissabon über keine exekutive Kompetenz im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Immerhin: Es gibt eine EU-Kommissarin für Gesundheit. Ihr Name ist Stella Kyriakides. Diese Woche ist sie ans Pult im großen Pressesaal der Brüsseler EU-Kommission getreten und hat sich „tief besorgt“ gezeigt. Vielfach seien die Infektionsraten in einigen Mitgliedsstaaten schlimmer als zum Höhepunkt im Frühjahr. Die bisherigen Maßnahmen in der Gemeinschaft waren bislang nicht immer ausreichend, „um die Gefahr zu verringern oder zu kontrollieren“. Sie fordert einheitliche Standards für Tests, Rückverfolgung von Kontakten von Infizierten, bessere Überwachung der öffentlichen Gesundheit, besseren Zugang zu Schutzkleidung und Medikamenten sowie die Stärkung der Kapazitäten in Krankenhäusern. Es sind die gleichen Themen, die hierzulande mittlerweile wieder jeden Abend in der Tagesschau verhandelt werden.

Dabei hat das deutsche Gesundheitssystem in den vergangenen Monaten eine erstaunliche Lernkurve gemacht und viel Erkenntnis gewonnen, die geteilt werden kann. Allein das würde einen deutschen Führungsanspruch gut begründen. Mehr noch: Wer helfen kann, muss es auch tun in einer Gemeinschaft, weil die Solidarität, auf die man sich einmal geeinigt hat, sonst nur noch hohle Phrase ist.

Und der nächste Test für ein gemeinsames Vorgehen unter deutscher oder besser deutsch-französischer Führung in Europa ist schon jetzt absehbar: Wie soll im nächsten Jahr geimpft werden, sollte es tatsächlich einen wirksamen Stoff geben?

Der Gesundheitsökonom Jonas Schreyögg aus Hamburg hat sich die Mühe gemacht, die Impfbereitschaft in Europa zu untersuchen. Demnach ist diese extrem unterschiedlich: Bei 48 Prozent in Frankreich und 74 Prozent in Dänemark liegt Deutschland mit 57 Prozent im Mittelfeld. Dort könnten Softpower und Führungsbereitschaft Wunder wirken, denn das Vertrauen in das deutsche Gesundheitssystem und seine tragenden Strukturen ist, dank der bisher guten Coronazahlen, hoch. Dabei haben Deutschland, wenn man dem mittlerweile europaweit geschätzten Berliner Virologen Christian Drosten folgt, vor allem auch: Glück.

In einem Tagesspiegel-Interview diese Woche macht Drosten noch einmal klar, dass der große Vorteil hierzulande wie schon im Frühjahr ist, dass die Infektionszahlen in den europäischen Nachbarländern vier Wochen früher steigen als in Deutschland: „Wer schon früh gewarnt wird, dass sich in 80 Kilometern Entfernung ein Stau aufbaut, kann jetzt schon mal überlegen, ob er einen Umweg nimmt.“ Das sei auch jetzt wieder die Situation. „Wir sehen, dass in Frankreich, Spanien und England die Infektionszahlen wieder steigen, noch sind es vor allem Jüngere, die seltener schwer erkranken, aber dennoch laufen dort jetzt schon wieder die Kliniken und zum Teil auch die Intensivstationen voll.“ Das Glück der Unzeitgleichheit also.

Es wird Zeit, dass die deutsche Politik das begreift, von diesem Glück etwas abgibt und ihr Handeln in dieser Pandemie strikt in den Dienst das europäischen Wohls stellt. Das bedeutet Führung, Hilfe und vor allem das gemeinsame Erarbeiten einer Strategie, solange die EU-Kommission dafür keine Kompetenzen hat.

Viele im Berliner Regierungsviertel werden bei der Bundestagswahl im September auch daran gemessen werden, ob sie auch im Krisenfall wie jetzt bereit sind, dieses Europa politisch zu gestalten. Bislang entsteht eher der Eindruck, dass die handelnden Akteure es mit wenigen Ausnahmen schlicht nicht können oder nicht wollen. Der Zeitgeist ist ein anderer.

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