Aufgehobene Geschichte

Was die USA vom deutschen Umgang mit historischer Schuld lernen könnten

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PICTURE ALLIANCE / NURPHOTO Black Lives Demonstration in WashingtonDC
Proteste im Lafayette Park in Washington
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PICTURE ALLIANCE / NURPHOTO Black Lives Demonstration in WashingtonDC
Proteste im Lafayette Park in Washington

Aufgehobene Geschichte

Was die USA vom deutschen Umgang mit historischer Schuld lernen könnten

Die Aufstände, die wir derzeit in Amerika zu sehen bekommen, werden niemand überraschen, der die Geschichte und Gegenwart des amerikanischen Rassismus kennt. Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass mein Buch Von den Deutschen lernen brandaktuell im wortwörtlichen Sinn wird.

Als ich anfing, daran zu arbeiten, war so etwas wie eine amerikanische Vergangenheitsaufarbeitung zum ersten Mal angestoßen worden.

2015 wurden neun schwarze Kirchgänger in der Emanuel African Methodist Episcopal Church in Charleston, South Carolina, ermordet. Bilder des Attentäters Dylann Storm Roof zeigten ihn vor der Fahne der Südstaaten, bekannt als Symbol des Rassismus. Auf der Trauerfeier appellierte Präsident Barack Obama an die Nation, die anstößige Fahne endlich einzuholen. Zwei republikanische Gouverneure folgten ihm. Amerikas größtes Warenhaus kündigte an, keine Symbole der Konföderation mehr zu führen.

Ich hoffte, zu der Transformation beizutragen, gerade als amerikanische Jüdin, die seit 1982 überwiegend in Berlin lebt. Auch wenn ich weiß, wie langsam und zaghaft man die Vergangenheitsaufarbeitung in der Bundesrepublik anging, hat Deutschland immerhin etwas geleistet, das Amerika noch nicht gewagt hat: eine öffentliche Anerkennung der historischen Verbrechen der Nation.

Eine bewusste Geschichtsfälschung, die vor 150 Jahren begann, sorgt heute noch dafür, dass nur wenige Amerikaner die Wahrheit über den Bürgerkrieg und seine Folgen kennen – einen Krieg, in dem mehr amerikanische Soldaten fielen als in allen anderen amerikanischen Kriegen zusammen. Bis heute können Neueinwanderer zwei verschiedene Deutungen der Kriegsursachen bei der Einbürgerungsprüfung angeben. Sowohl die Antwort des Nordens – der Krieg ging um die Abschaffung der Sklaverei – als auch die Antwort des Südens – es ging um die Rechte der einzelnen Bundesländer – gelten als korrekt.

Diejenigen, die die Antwort des Südens vorziehen, verschweigen immer, welche Rechte damit verteidigt werden sollten, obwohl es in den damaligen Kriegserklärungen stand. Die Konföderation schickte ihre Söhne in die Schlachtfelder zum Schutz des Rechts, andere Menschen zu versklaven.

Mit mehr Menschen und Waffen konnte der Norden den Krieg gewinnen. Der Süden aber hat die Deutungshoheit über den Krieg weitgehend behalten. Überall in den USA wurden Denkmäler ihrer gefallenen Helden errichtet, die Reconstruction verteufelt. Unterstützung erhielten sie von der neuen Filmindustrie, die hunderte von Filmen produzierte, die die Rebellen der Südstaaten glorifizierten.

Aus vielen Quellen entstand das Mythos des lost cause, der „verlorenen Sache“ – eine Kriegsgeschichte, in der edelmütige Südstaatler, die nur ihre Heimat verteidigen wollten, von den Yankees überwältigt wurden. Ihre Männer waren verwundet oder in Kriegsgefangenschaft, ihre Frauen wurden geschändet, ihre Kinder hungerten, ihre Städte lagen in Schutt und Asche. Und dann versuchten diese vulgären Yankees, ihnen auch noch die Kriegsschuld in die Schuhe zu schieben!

Älteren deutschen Leserinnen und Lesern werden solche Litaneien bekannt sein. Jahrzehnte nach dem verlorenen Weltkrieg war das Selbstbild der meisten Bürger der Bundesrepublik kaum anders. Doch die deutsche Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit, so zaghaft und langsam sie auch war, hat zumindest dies geleistet: Es vollzog sich ein Perspektivwechsel von den Opfern zu den Tätern – etwas, was die Südstaaten und ihre Unterstützer seit 155 Jahren erfolgreich verhindern.

Obwohl ich im Süden geboren bin zu einer Zeit, in der es schwarzen und weißen Kindern verboten wurde, zusammen zu schwimmen, wusste ich fast nichts über die Zeit zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1865 und dem Anfang der Bürgerrechtsbewegung 1955. Diese Gedächtnislücke war für weiße Amerikanerinnen und Amerikaner üblich, und sie war bewusst produziert – unter anderem, indem diese Epoche unter dem verklärenden Namen „Jim Crow“ bekannt wurde. Jim Crow war die rassistische Karikatur eines weißen Schauspielers. Eine ganze Epoche nach ihm zu benennen, suggerierte, dass es eine Zeit voller bedauerlicher, aber harmloser Vorurteile war. Tatsächlich war es eine Zeit des rassistischen Terrors – wie Bryan Stevenson, Autor der bahnbrechenden Studie „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ (Piper) und Initiator der nationalen Gedenkstätte für Lynchmord, die Ära nennt.

Da Sklaven als Besitz galten, wurden sie oft gefoltert, aber selten ermordet; schließlich hatten die Sklavenhalter viel Geld für sie bezahlt. Mit der offiziellen Abschaffung der Sklaverei hat sich das geändert. In der kurzen Zeit der Reconstruction wurden weitere Bürgerrechte für die befreiten Afroamerikaner erkämpft: Schwarze Abgeordnete saßen im Kongress, Reparationen für die Sklavenzeit wurden bezahlt. Aber 1877 haben die Radical Reconstructionists die Macht im Kongress verloren, und die Black Codes wurden erlassen – Gesetze, die viele normale Tätigkeiten von Schwarzen kriminalisierten. Arbeitslosigkeit war Grund für eine Verhaftung – wie auch lautes Sprechen in der Nähe einer weißen Frau, ebenso der Verkauf von Gemüse nach Sonnenuntergang. Der Ku-Klux-Klan wuchs, um solche Gesetze zu verteidigen. Nichts war einfacher, als Verbrechen zu erfinden und Afroamerikaner entsprechend zu verurteilen.

So entstanden Zustände, die noch brutaler als die Sklaverei waren. Nach dem neuen System waren Häftlinge kein Besitz, sondern wurden von den Staatsgefängnissen an Privatunternehmen ausgeliehen, um Kohle zu fördern, Stahl zu schmieden, Baumwolle zu pflücken. Beim Tod der Häftlinge entstanden also keine „materiellen Verluste“; in einigen Straflagern betrug die Sterblichkeitsrate 40 Prozent. Wenn ein Häftling aufgrund von Mangelernährung, Auspeitschungen, Überarbeitung oder Krankheit starb, konnte das Unternehmen immer einen neuen bekommen.

Dieses Häftlingssystem wurde erst mit dem Zweiten Weltkrieg verboten – nachdem die Japaner darauf aufmerksam gemacht hatten, um people of color zu überreden, nicht mit in den Krieg zu ziehen, da die USA offensichtlich ihre Interessen nicht berücksichtigten. Doch die Epoche des Terrors ist noch nicht zu Ende. Der Ku-Klux-Klan ist noch heute aktiv, nicht nur im Süden, und es gibt bis heute kein Bundesgesetz gegen Lynchmord. Erst 2018 wurde ein Gesetz im Repräsentantenhaus bewilligt, doch am Tag der Trauerfeier für George Floyd hat der Republikaner Rand Paul aus Kentucky die endgültige Verabschiedung des Gesetzes im Senat blockiert. Kein Wunder, dass Black Lives Matter die polizeilichen Angriffe auf Schwarze in der altbewährten Tradition des Lynchmords sehen. Das Lynchen ist ja nicht einmal landesweit verboten.

Die gegenwärtigen Aufstände bereiten aber auch Hoffnung. Nicht nur in den USA, sondern in weiten Teilen der Welt stehen weiße Leute nun auf – in Solidarität mit schwarzen Frauen und Männern, aber auch mit der Forderung, die rassistische Geschichte ihrer Länder endlich aufzuarbeiten.

Amerikaner, die seit Trump wissen, dass neonazistisches Gedankengut nicht etwa nur ein deutsches Problem war beziehungsweise ist, sind derzeit gern bereit, von den Deutschen zu lernen. Viele Deutsche, die sich gerade in diesen geschichtspolitischen Fragen vor Selbstgefälligkeit schützen wollen und in Selbstkritik geübt sind, reagieren oft skeptischer. Doch gerade diese Selbstkritik ist etwas, was man von den Deutschen lernen kann.

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