Das Ende der Zukunft

Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar markiert das Ende einer Epoche. Doch welche Weltordnung folgt ihr?

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PICTURE ALLIANCE/ASSOCIATED PRESS
Bündnisse: Frank-Walter Steinmeier und Wolodymyr Selenskyj in Kyiv in der vergangenen Woche
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Bündnisse: Frank-Walter Steinmeier und Wolodymyr Selenskyj in Kyiv in der vergangenen Woche

Das Ende der Zukunft

Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar markiert das Ende einer Epoche. Doch welche Weltordnung folgt ihr?

Man hört sie mit großer Regelmäßigkeit: Stimmen, die verlangen, dass der Krieg in der Ukraine enden solle, wie auch immer. Damit die Krise in Europa und in weiten Teilen der Welt, die Russlands Präsident Wladimir Putin mit seinem Einmarsch und Versuch der Unterwerfung eines Nachbarstaates ausgelöst hat, zu Ende geht. Und damit alles wieder so wird wie vorher. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ist einer von denen, die offenkundig so denken. „Wenn der Krieg vorbei ist, sollten wir auch wieder Erdgas aus Russland nutzen“, forderte er vergangenes Wochenende.

Wenig spricht dafür, dass es so kommt. Denn der 24. Februar 2022 markiert das Ende der post-Cold War era, der Epoche, die nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Fall der Berliner Mauer begann. Mit Verweis auf den viel gescholtenen amerikanischen Politologen Francis Fukuyama kann man vom „Ende der Geschichte“-Zeitalter sprechen, das mit Putins Überfall unwiederbringlich vergangen ist.

Zwar hat Fukuyama in einem Beitrag für The Atlantic jüngst argumentiert, dass die Entwicklungen in Putins Russland und auch in Xi Jinpings China die Überlegenheit des demokratisch-liberalen Modells bewiesen, und dafür gute Gründe genannt: Die einsamen Entscheidungen der Autokraten seien von umso geringerer Qualität, je weniger Widerspruch sie erlebten, und hätten wie im Fall des russischen Angriffs auf die Ukraine oft katastrophale Folgen. Die ach so „starken Männer“ führten Systeme an, die mangels Legitimation auf tönernen Füßen stünden und schnell die Unterstützung ihrer Völker verlieren könnten: „Keine autoritäre Regierung repräsentiert eine Gesellschaft, die, auf längere Zeit gesehen, attraktiver ist als die liberale Demokratie“, schreibt Fukuyama.

Die Tatsache, dass Putins im September verkündete „Teilmobilisierung“ ungleich mehr russische Männer zur Flucht aus dem Land denn zum Eintritt in die russische Armee bewegt hat, unterstreicht dies: Diejenigen, die die Möglichkeit haben, zu entkommen, wollen nicht für Putins verbrecherische Kleptokratie sterben. Auf ukrainischer Seite geben bislang Ungezählte mit Überzeugung ihr Leben für eine Zukunft in Freiheit und Demokratie.

Fukuyamas Beharren darauf, Recht gehabt zu haben, ändert allerdings wenig daran, dass sich die Staatenwelt seit dem 24. Februar neu organisiert und es eine Rückkehr zum Status quo ante nicht mehr geben wird. Die in Deutschland von Bundeskanzler Olaf Scholz erklärte „Zeitenwende“ ist lediglich ein nationales Puzzleteil in einer sich weltweit verändernden Systemkonstruktion. Demokratisch verfasste Staaten, allen voran Deutschland, räumen mit der von Fukuyama inspirierten Vorstellung auf, die Welt entwickele sich „zwangsläufig“ zu einer demokratischeren und damit friedvolleren Welt, weshalb Abhängigkeiten wie die Deutschlands von russischem Erdgas nicht nur sicherheitspolitisch unbedenklich seien, sondern dem Frieden dienten.

Heute scheint es fast banal, dass zur Gewährleistung der eigenen Sicherheit einseitige ökonomische Abhängigkeiten vermieden werden müssen. Der angeblich „günstige Preis“ beispielsweise für russisches Erdgas war nur deshalb so niedrig, weil die tatsächlichen Kosten „externalisiert“ und verschoben wurden; diesen und sicher auch noch nächsten Winter werden sie in Deutschland und Europa doppelt und dreifach nachgezahlt. Und wie der Umgang mit dem Einstieg von Chinas staatlicher Schifffahrtsgesellschaft Cosco bei der Betreibergesellschaft eines von vier Terminals des Hamburger Hafens zeigt, ist das Kanzleramt von einem prinzipientreuen Ansatz in Fragen strategischer Abhängigkeiten noch ein gutes Stück entfernt.

Falls Putin siegt

Welchen Charakter die im Entstehen begriffene Weltordnung haben wird, hängt entscheidend vom Ausgang des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ab. Hat Putin Erfolg und kann Russland weitere Teile des Nachbarlandes einverleiben, hat Gewalt über Völkerrecht gesiegt, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene regelbasierte Ordnung wäre zerstört. Putin wäre seinem Ziel, aus der Ukraine, Belarus und Teilen des Nordens Kasachstans ein Großrussland zu schaffen, entscheidend näher gerückt. In den Augen des Putin-Regimes und auch Xi Jinpings Chinas hätte sich zudem die gemeinsame Grundannahme bewiesen: dass der Westen schwach und die liberale Demokratie auf dem absteigenden Ast ist.

Dies böte die Grundlage für die nächsten Schritte, die Moskau in seinen Demarchen vergangenen Dezember an die Vereinigten Staaten und die Nato klar formuliert hat: die „Wiederherstellung“ eines russischen Einflussbereichs in Europa praktisch bis zur Oder, das Herausdrängen der Amerikaner aus Europa. Ein Donald Trump, zurückgekehrt ins Weiße Haus, der schon in seiner ersten Amtszeit mit dem Grundsatz amerikanischer Außenpolitik, für ein „Europe whole and free“ einzustehen, wenig anfangen konnte, könnte zu einem Ausgleich mit Putin geneigt sein. Die nukleare US-Garantie für europäische Verbündete würde er sich teuer bezahlen lassen. Von der Nato bliebe nicht viel übrig.

Seit 1945 hat es praktisch keinen erfolgreichen Eroberungskrieg mehr gegeben; zwischen 1816 und dem Zweiten Weltkrieg verschwand dagegen rund die Hälfte der Staaten von der Weltkarte. Russlands erfolgreiche Einverleibung der Ukraine wäre ein Signal. Selbst wenn China ein regelbasiertes System bevorzugte (allerdings mit chinesischen Regeln) und Fragezeichen bestehen, ob das Anfang Februar verkündete russisch-chinesische Bündnis wirklich so „grenzenlos“ ist – ein auf weitere Expansion zielendes Russland würde in einem multipolaren Weltsystem dafür sorgen, dass nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Berichte über die Anwesenheit von Irans Revolutionsgarden auf der Krim, um bei den Drohnenangriffen auf die ukrainische Infrastruktur zu helfen (und eine neue Flüchtlingswelle im Winter auszulösen), deuten schon jetzt an, welche Ausmaße der Krieg bei weiteren Erfolgen Russlands noch nehmen kann.

Wenn Putin verliert

Eine erfolgreiche Abwehr der russischen Invasion in der Ukraine würde dagegen das regelbasierte Weltsystem erst einmal stärken. Dennoch werden sich die Demokratien der Welt (neuerdings auch „globaler Westen“ genannt), insbesondere die im euro-atlantischen Raum und ihre Verbündeten und Partner in Asien, insbesondere Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland, neu formieren.

Chrystia Freeland, Kanadas Vize-Premierministerin, hat dies in einer Rede beim Washingtoner Thinktank Brookings Institution Anfang Oktober skizziert. Drei wesentliche Entwicklungen werden das „friend-shoring“ kennzeichnen: die Verlagerung von Produktionsstätten und Wertschöpfungsketten in demokratisch verfasste Länder, ein Öffnen gegenüber den „in-between states“, den Demokratien in der Karibik, Lateinamerika, Afrika und Asien, sowie ein neuer Umgang mit den Autokraten der Welt.

Bei Letzterem geht es nicht nur um einen effektiven Schutz vor den „Petro-Tyrannen“ und das Verständnis, dass autoritäre Regime wie das russische „uns fundamental feindlich gesinnt sind“. Es gibt auch Politikfelder wie Klimawandel, Rüstungskontrolle, Pandemie-Bekämpfung oder die Stabilität des internationalen Finanzsystems, die den Umgang mit autokratischen Staaten erfordern. Deshalb, so Freeland, müssen die Demokratien gleichzeitiges „containment and engagement“ lernen, also eine Parallelpolitik der Eindämmung und (punktueller) Einbindung betreiben.

Nach dem „Urlaub von der Geschichte“ der vergangenen 30 Jahre muss gerade Deutschland sich grundlegend neu orientieren. Wenn die Weltgeschichte im Fukuyama’schen Sinne stillstand, dann in ökonomischer Hinsicht als „Ende der Wirtschaftsgeschichte“, wie der russische Ökonom Vladislav Inozemtsev 2019 geschrieben hat (ohne allerdings Putins militärischen Angriff auf die Weltordnung vorauszuahnen). Auch dieses Ende ist vorbei, die von Inozemtsev skizzierte „postglobale Welt“ ist da. China hat die Zeit genutzt, um eine heimische Hochtechnologie-Industrie aufzubauen, die mit der deutschen konkurrieren kann; dies dürfte sich in Kürze auswirken. Technologische Überlegenheit, die die Vereinigten Staaten mit im Oktober verkündeten umfangreichen Exportkontrollen gegenüber China schützen wollen, wird ein wichtiger Schlüssel sein. Arg- bis ahnungsloser Merkantilismus ist dagegen ebenso Geschichte wie Erdgaslieferungen aus Russland.

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