Das ungelöste Repräsentationsproblem

Die Skepsis gegenüber ARD und ZDF ist „nur“ ein Ausdruck des Akzeptanzproblems westdeutscher Institutionen im Osten

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PICTURE ALLIANCE/ZB/EUROLUFTBILD.DE/ROBERT GRAHN
Stadt in Deutschland: „Makdeburk“
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Stadt in Deutschland: „Makdeburk“

Das ungelöste Repräsentationsproblem

Die Skepsis gegenüber ARD und ZDF ist „nur“ ein Ausdruck des Akzeptanzproblems westdeutscher Institutionen im Osten

Magdeburg ist mal wieder in aller Munde. Die CDU-Fraktion im Landtag weigerte sich, dem Rundfunkstaatsvertrag zuzustimmen. Zunächst ist offenkundig, dass Ministerpräsident Reiner Haseloff mit einem Sprung nach vorn, indem er Innenminister Holger Stahlknecht entließ, die schwarz-grün-rote Koalition vorerst rettete. Noch weiß niemand genau, wie die anhaltinische CDU reagieren wird. Stahlknecht mag zurückgetreten sein als Parteivorsitzender, weg vom Fenster ist er damit noch lange nicht. Interessant ist an diesem Vorgang, dass Stahlknecht ein gebürtiger Westdeutscher ist.

Was hat das alles mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu tun? Abgesehen von dem bekannten Umstand, dass die AfD die Sendeanstalten abbauen und verschwinden lassen will und der Stahlknecht-Flügel der CDU in Sachsen-Anhalt genau deswegen die Nagelprobe inszenierte, um ihre künftige Koalitionswilligkeit zu demonstrieren, geht es praktisch nicht einmal am Rande um den ÖRR. Die jüngsten Umfragen haben erneut gezeigt, welche herausragende Akzeptanz der Rundfunk genießt. Selbst die Feinde der offenen Gesellschaft bevorzugen die Informationsangebote von ARD, ZDF und Deutschlandfunk, um sich auf dem Laufenden zu halten.

Wenn es also nicht um die Öffentlich-Rechtlichen geht, worum geht es dann? Ich fürchte, das Problem ist noch weitaus dramatischer: Die repräsentative Demokratie hat im Osten ein erhebliches Akzeptanzproblem. Der Rundfunk ist „nur“ ein Ausdruck davon. Im Osten blicken viele – je nach Umfrage und Fragestellung zwischen einem Drittel bis zur Hälfte der Menschen – skeptisch bis ablehnend auf das im Grundgesetz verankerte Demokratie- und Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. Diese Werte sind seit Jahren und Jahrzehnten ziemlich konstant und immer deutlich niedriger als im Westen, obwohl diese auch dort gesunken sind.

Immerhin, die Hälfte bis zwei Drittel der Ostdeutschen verfechten und unterstützen die repräsentative Demokratie. Zugleich aber: Warum kommen in den Medien, bei ARD, ZDF und dazugehörigen Häusern eigentlich immer vornehmlich jene vor, die beklagen, dort nicht vorzukommen? Die Regierungskommission „30 Jahre Revolution und deutsche Einheit“ mahnte soeben in ihrem Abschlussbericht an, ausgewogener über Ostdeutschland zu berichten.

Dazu gehörte zum Beispiel auch, bestimmte Darstellungsweisen abzustellen: Wenn über einen rassistischen Überfall in Dortmund berichtet wird, so heißt es zutreffend, das oder jenes geschah in Dortmund, meist wird noch der Stadtteil, vielleicht sogar die Straße genannt. Geschieht ein ganz ähnliches Verbrechen in Chemnitz oder Greifswald, so berichten die Medien nicht aus Chemnitz oder Greifswald, sondern aus Ostdeutschland. So viel Kollektivismus gab es nicht mal im Ulbricht-Regime, wie jetzt den Ostdeutschen häufig angedichtet wird.

Doch nicht nur die 1990 einsetzende Stereotypenbildung über Ostdeutsche und Ostdeutschland durch Westdeutsche in ost- und gesamtdeutschen Medien ist für die Skepsis vieler Ostdeutscher verantwortlich. Viel stärker schlägt zu Buche, dass sie 1990 mit großer Mehrheit ein politisches System herbeiwählten, ohne dass ihnen jemand erklärte, wie es eigentlich funktioniert. Im Überschwang der Ereignisse glaubten viele, das System sei selbsterklärend. Ist es aber nicht, weswegen allen Schülern das politische System der Bundesrepublik beigebracht wird und viele Millionen Euro alljährlich für die politische Bildung ausgegeben werden. In diesen Genuss kamen die erwachsenen Ostdeutschen nach 1990 nicht – sie mussten es sich selbst beibringen oder unterließen es, wie die meisten, weil sie mit Existenzsorgen beschäftigt waren.

Millionenfache Ersterfahrungen mit dem System waren zudem nicht gerade identitätsbildend: Denn für Millionen waren die ersten Begegnungen mit dem neuen Staat nach dem 3. Oktober 1990 Arbeitsämter, Sozialämter, Sozial- und Zivilgerichte. Und sie erlebten, dass ihre Interessen gar nicht so eins zu eins von ihren Abgeordneten vertreten werden konnten, wie sie es erwartet hatten. Große Ernüchterung setzte ein – vor allem ab den 2000er-Jahren, just in dem historischen Moment, als sich die größten Existenzsorgen für viele in neue Zukunftsträume verwandelten. Das soziale Ankommen im bundesdeutschen Staat verband sich mit einer wachsenden politischen Distanz.

Und nun kommt der öffentlich-rechtliche Rundfunk doch noch ins Spiel. Dort spielte „der Ostler“ im Prinzip mehrere festgelegte Rollen: als Stasi-Opfer oder Stasi-Täter, als Jammer-Ossi, als Neonazi oder als Vertreter einer eigenen Ethnie. Besonders die letzte Nummer war immer besonders grotesk. Gregor Gysi oder Wolfgang Thierse als Protoossis sollten den Westlern erklären, wie der Ossi tickt. Gefühlt eine Million Mal. Man stelle sich mal vor, ein Flensburger würde im TV als Dauerexperte für Bayern präsentiert werden. Undenkbar! Das Beispiel verweist auf ein Machtgefälle, das sich seit Jahrzehnten eben auch bei ARD, ZDF und Co. manifestiert.

Die erwähnte Regierungskommission betont, wie stark das ungelöste Repräsentationsproblem auf Ostdeutschland lastet. An dem Umstand, dass die Begegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen fast immer im Arbeitsleben denen zwischen Untergebenen und Chefs entsprechen oder der ostdeutsche Mieter fast immer auf westdeutsche Vermieter trifft, wird sich so schnell nichts ändern lassen. Die Kommission schlägt jetzt vor, ostdeutsche Bildungswerke aufzubauen oder Netzwerke für ostdeutsche Eliten zu fördern – beziehungsweise überhaupt erst aufzubauen. Sollte das verwirklicht werden, dauert es noch, bis Ergebnisse zu sehen sein werden.

Bis dahin könnten Journalisten ja das Ihrige beitragen und über den Osten so berichten wie über eine x-beliebige Region in Bayern, Nordrhein-Westfalen oder Schleswig-Holstein. Ich weiß auch schon, wann dies geglückt sein wird. Dann, wenn endlich auch Westmenschen einfache Städtenamen wie Magdeburg, immerhin eine sehr bedeutende Stadt der deutschen Geschichte seit über 1000 Jahren, richtig aussprechen. Stellen Sie sich einmal vor, Ostdeutsche würden Bonn wie den Kassenzettel aussprechen – das Gelächter nähme kein Ende. Aber Magdeburg? Seit Jahrzehnten wird es von vielen Westdeutschen als „Maaaaaagdeburg“ in ARD und ZDF allzu oft bezeichnet, obwohl es mit einem kurzen A „Makdeburk“ ausgesprochen wird. Ganz einfach eigentlich, aber nicht einmal Tom Buhrow schert sich darum, wie zuletzt am 8. Dezember 2020 in der abendlichen „Tagesschau“ zu hören war, als er sich zu Recht über die Vorgänge in der anhaltinischen Landehauptstadt beklagte.

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