Gesundheit aller vor Profit weniger

Die Pandemie eröffnet wie ein Brennglas den Blick auf Missstände und Ungleichheiten, national wie international

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PICTURE-ALLIANCE/DPA/EPA AFP ARCHIV
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Gesundheit aller vor Profit weniger

Die Pandemie eröffnet wie ein Brennglas den Blick auf Missstände und Ungleichheiten, national wie international

„Grund- und Menschenrechte schützen!“ Dieser Slogan war in letzter Zeit häufiger zu hören – auf Demonstrationen, die sich gegen die Corona-Maßnahmen wandten. Auch wenn diese Meinungsäußerungen und Proteste von der Demonstrationsfreiheit rechtlich geschützt sein mögen, sind sie es, die die Idee der Menschenrechte verkehren. Sie diskreditierten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie – die dem Schutz der Grund- und Menschenrechte der betroffenen Personen und letztlich von uns allen dienen. Besonders beunruhigend dabei ist, dass die Proteste zusammen mit Gruppierungen aus dem rechtsextremen, rassistischen Umfeld organisiert und durchgeführt wurden.

Was also sind die eigentlichen Gefahren, die den Menschenrechten aktuell drohen? Lassen Sie uns das Argument der Menschenrechte wieder vom Kopf auf die Füße stellen: Menschenrechte bilden die Messlatte für die Bewertung von staatlichen Maßnahmen – auch solcher zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Es muss abgewogen werden, beispielsweise das Recht auf Leben und Gesundheit gegenüber dem Recht auf Berufsfreiheit oder Fortbewegung.

Die ergriffenen Maßnahmen müssen immer der Prüfung standhalten, ob der zu erwartende Nutzen im Verhältnis zu den Belastungen, den menschenrechtlichen und grundrechtlichen Einschränkungen steht, die sie sowohl direkt als auch mittelbar mit sich bringen. Viele der ergriffenen Maßnahmen halten dieser Prüfung stand. Es gibt aber Maßnahmen, die sich als flagrante Verletzungen darstellen. So wurden in Lateinamerika (El Salvador, Paraguay und Venezuela) unverhältnismäßige Quarantäne-Anordnungen erlassen und zehntausende Menschen wochenlang in Einrichtungen festgesetzt, die von der Polizei oder dem Militär bewacht wurden. In El Salvador wurden bis Ende August etwa 16 780 Menschen in solchen Einrichtungen festgehalten. Es gab keinen Rechtsschutz gegen diese Maßnahmen – von ausreichendem Schutz vor Ansteckung ganz zu schweigen.

In einer Reihe von Ländern hat Amnesty International darüber hinaus dokumentiert, dass es bei der Durchsetzung von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu rechtswidriger und diskriminierender Gewalt kam. Etwa in Angola, wo die Polizei die Ausgangsbeschränkungen mit Schlagstöcken, aber auch Schusswaffen durchsetzte und zwischen Mai und Juli mindestens sieben Jugendliche tötete. Regierungen nutzen die Pandemie auch als Deckmantel, um einen Abbau von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit zu begründen. So wurden in Tansania Journalistinnen und Journalisten, die kritisch über die Pandemie berichteten, mit Strafen belegt.

Teilweise nutzten die Staaten die Covid-19-Pandemie auch als Vorwand für den Ausbau von Überwachung. Das ergaben Amnesty-Analysen von Tracing-Apps in elf Ländern im Nahen Osten, in Nordafrika und Europa. Die App aus Katar beispielsweise ermöglichte die Echtzeitüberwachung der Bewegung aller Nutzerinnen und Nutzer. Nach Bekanntwerden des Amnesty-Berichts wurde sie aus dem Verkehr gezogen.

Staaten müssen verhältnismäßig und diskriminierungsfrei vorgehen. Das ist dann nicht der Fall, wenn etwa Ungarn, Bulgarien und Italien Roma-Siedlungen komplett unter Quarantäne setzen. Gleichzeitig muss ein Staat schutzbedürftige Menschen bei den getroffenen Maßnahmen besonders im Blick haben. Das betrifft ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen, die besondere Gefahr laufen, schwere Verläufe der Krankheit zu erleben, aber auch Kinder, deren Recht auf Bildung durch Schulschließungen gefährdet wird. Es betrifft auch geflüchtete Menschen, wenn sie unter verheerenden Bedingungen in Lagern auf den griechischen Inseln leben.

Die Pandemie eröffnet wie ein Brennglas den Blick auf strukturelle Missstände und Ungleichheiten, national wie international. Laut Zahlen des „Center for Disease Control and Prevention“ ist die Wahrscheinlichkeit von People of Color in den USA, an Covid-19 zu erkranken, fast dreimal so hoch wie jene für weiße US-Amerikanerinnen und -Amerikaner. Die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben, ist für Schwarze Menschen mehr als doppelt so groß.

Die Covid-19-Pandemie wirkt menschenrechtlich sogar wie ein Brandbeschleuniger. Sie verstärkt die Ungleichheiten zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Ein Beispiel ist die Verteilung der Corona-Impfstoffe. Amnesty International und andere Organisationen haben in dieser Woche darauf hingewiesen, dass nach aktuellem Stand neun von zehn Menschen in ärmeren Ländern im nächsten Jahr keinen Zugang zu den Vakzinen haben werden. Reiche Länder hingegen haben sich so viele Impfdosen gesichert, dass sie die gesamte Bevölkerung nahezu dreimal impfen könnten. Dort muss umgesteuert und das Recht auf Gesundheit aller Menschen geschützt werden. Regierungen sollten sich dafür einsetzen, Impfstoffe zu einem globalen öffentlichen Gut zu machen. Für Pharmakonzerne muss gelten: Gesundheit aller vor Profit weniger.

Am 10. Dezember 1948 wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet. Sie war die Antwort auf die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, auf den Holocaust und unermessliches Leid. Die Erklärung macht deutlich: Voraussetzung für Frieden in der Welt ist der Schutz der Menschenrechte aller Menschen – egal welcher Herkunft oder welchen Geschlechts. Sie müssen deswegen auch heute die Antwort in der Krise sein. Nicht als rhetorisches Mittel, um eine Gesellschaft zu spalten und den Grundsatz „survival of the fittest“ zu propagieren, sondern um eine solidarische Gesellschaft zu erschaffen, die auf empathische Weise besonders jene schützt, die verletzlicher sind als andere.

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