Das unruhige Land

Es ist an der Zeit, gegen die Ideologen des Hasses aufzustehen

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IMAGO IMAGES/GUSTAVO ALABISO
Der Blick auf den Plenarsaal – von der „Kuppel der Demokratie“.
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IMAGO IMAGES/GUSTAVO ALABISO
Der Blick auf den Plenarsaal – von der „Kuppel der Demokratie“.

Das unruhige Land

Es ist an der Zeit, gegen die Ideologen des Hasses aufzustehen

Es waren friedliche Szenen – tausende Menschen standen vor dem Reichstagsgebäude, neben mir sagte ein älterer Herr: „Nie war er [der Reichstag] dem Volk so nahe wie jetzt.“ Das war im Sommer 1995, Christo hatte den Reichstag verhüllt. Häufig, wenn ich später vor dem Gebäude stand oder aus ihm berichtete, musste ich an diesen Satz denken. Das Bild des verhüllten Reichstags ging um die Welt, ein Symbol bis heute für ein friedlich wiedervereintes Land.

Es waren Bilder des Chaos, es waren verstörende Bilder, als am 29. August 2020 entfesselte Demonstranten gegen die Anti-Corona-Politik der Bundesregierung, aufgeputscht durch Fake-News, versuchten, in den Reichstag zu gelangen. Am Ende verhinderten drei tapfere Polizisten vor den Türen das Eindringen in das Parlamentsgebäude. Die Bilder gingen um die Welt – ein Symbol für ein unruhiges Land oder nur ein Ausreißer?

Es war kein Ausreißer. Die bestürzenden Szenen zeigten vielmehr so deutlich wie nie zuvor, wie aufgewühlt, wie unruhig dieses Land, ausgelöst durch Covid-19 und die Welt der Internet-Kommunikation, geworden ist. Sie zeigten auch, dass zwar die Mehrheit der Bevölkerung – 87 Prozent laut ARD-Deutschlandtrend – die Schutzmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen gegen das Virus für angemessen oder sogar für nicht hinreichend streng genug halten, dass sich diese Mehrheit aber im Zeitalter der Fake-News-Blasen, der Echokammern der Verschwörungstheoretiker und besonders der rechtsradikalen Gruppierungen nicht mehr in der öffentlichen Wahrnehmung durchsetzen kann.

Die Provokateure der Rechtsradikalen und Verschwörungsanhänger haben sich an die Spitze der Proteste gesetzt. Wer mit ihnen zusammen demonstriert oder sie – wie die sich Querdenker nennenden Veranstalter – auftreten lässt, der weiß, was er tut, der weiß, mit wem er den Reichstag „erstürmen“ will. Da hilft auch keine wohlfeile Distanzierung. Mit der Reichsfahne, der Reichskriegsfahne und mit der russischen Fahne in der Hand fordern sie zum „Widerstand“ gegen die „Diktatur“ der Regierenden in diesem Land.

Die Demonstranten, die ihre Verbundenheit mit Russland bekunden, würden unter Putin oder Lukaschenka kaum in Freiheit bleiben. Der nun bewiesene Giftanschlag auf den Putin-Gegner Alexej Nawalny zeigt, welchen brutalen Unterdrückungsregimen Teile dieser Querdenker und Verschwörungstheoretiker hinterherlaufen.

Die irrlichternden Gruppen vor dem Reichstag wissen nicht, was eine wirkliche Diktatur für die Menschen bedeutet – von der haarsträubenden Geschichtsvergessenheit und Geschichtsklitterung ganz zu schweigen.

Diese „Bewegung“ wird zusehends internationaler. Es waren nicht nur russische Fahnen vor dem Reichstag und dem Brandenburger Tor zu sehen, sondern auch verstärkt US-Flaggen. Trumps Lügen- und Verschwörungspolitik greift um sich auch im deutschen Rechtsradikalen- und Verschwörungslager. Das Internet wird dabei mehr und mehr zu einer Waffe. Demagogen und Diktatoren nutzen Social Media für ihr gesellschaftliches Zerstörungswerk. Das gilt für Putin genauso wie für Trump. Besonders der US-Präsident ist mittlerweile die Inkarnation des politischen Hasses geworden. Er zerstört damit den Zusammenhalt in einem der großartigsten Länder der Welt. Und er könnte noch mehr zerstören.

Dieser Gefahr müssen wir uns alle entgegenstemmen. Gefragt sind jetzt auch diejenigen, die aus durchaus berechtigtem Interesse – seien es Eltern, Lehrer, Künstler, Selbstständige, Gastronomen, Mittelständler oder noch andere Gruppen – gegen die Anti-Corona-Maßnahmen der Regierenden in Bund und Ländern demonstrieren – mit Maske und Abstand. Und vor allem Anstand.

Wir alle müssen den politischen Hass bekämpfen. Er äußert sich mehr und mehr auch auf Straßen und Plätzen, bei Kundgebungen, im Alltag.

Wir müssen uns gegen diesen Hass – wo immer es notwendig ist – konsequent stemmen. Wir müssen uns von den Rechtsradikalen, von den Neonazis und Verschwörungstheoretikern distanzieren, mit ihnen darf es keine gemeinsamen Demonstrationen mehr geben. Erst recht keine gemeinsame Organisation von Veranstaltungen und Demonstrationen.

Große Boulevardmedien sollten sich überlegen, ob sie wirklich Verschwörungstheoretiker auf ihren Titelseiten groß herausbringen – es sind Antisemiten unter ihnen. Es macht fassungslos, auf welches Niveau die Zeitung mit den vier Großbuchstaben aus dem Springer-Konzern gesunken ist. Die Fahnen am vergangenen Sonntag müssen jedem Demokraten, jedem Mitglied dieser demokratischen Gesellschaft gezeigt haben, welches gefährliche Gebräu sich da zusammengetan hat.

Wir alle müssen der „Verwahrlosung der Demokratie“ entgegentreten – wie der Frankfurter Politologe und Philosoph Rainer Forst bei seiner Rede diese Woche in der Frankfurter Paulskirche bei der Eröffnung der Ausstellung „55 Voices of Democracy“ anmahnte.

Noch nie hat das Volk, dem das Reichstagsgebäude gewidmet wurde, eine so lange Zeit der Demokratie und des Friedens erlebt wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Das sollte Aufforderung sein, sich gegen rechtsradikale Brunnenvergifter und Antisemiten, gegen fehlgeleitete Verschwörungsanhänger und Ideologen des Hasses zur Wehr zu setzen. Nur dann werden Wachsamkeit und Kritik gegenüber und an den Regierenden am Ende gestärkt.

Nun soll das Reichstagsgebäude mit dem Deutschen Bundestag in Zukunft besser gesichert werden. Das war schon vor den Vorfällen am vergangenen Samstag geplant. Ein tiefer Graben und Zäune sollen das Parlament vor Angriffen schützen. Das meistbesuchte Parlamentsgebäude der Welt wird damit ein Stück von seinem Volk getrennt. Ich muss wieder an den älteren Herrn neben mir denken im Sommer 1995. Sein Satz: „Nie war er dem Volk so nahe wie jetzt“ gilt nicht mehr in vollem Umfang. Und doch: Es bleibt aber die gläserne Kuppel mit dem Blick in den Plenarsaal – die Kuppel der Demokratie.

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