Der deutsche Elefant im Raum

Die Beziehungen zwischen Russland und der EU befinden sich auf einem Tiefpunkt. Brüssel findet keine Antwort auf die Provokationen aus Moskau

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PICTURE ALLIANCE/DPA/TASS | RUSSIAN MINISTRY OF FOREIGN AFFAIRS
Auch Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, wurde bei seinem jüngsten Besuch in Moskau im Februar Platz auf einer Couch zugewiesen.
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PICTURE ALLIANCE/DPA/TASS | RUSSIAN MINISTRY OF FOREIGN AFFAIRS
Auch Josep Borrell, Hoher Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, wurde bei seinem jüngsten Besuch in Moskau im Februar Platz auf einer Couch zugewiesen.

Der deutsche Elefant im Raum

Die Beziehungen zwischen Russland und der EU befinden sich auf einem Tiefpunkt. Brüssel findet keine Antwort auf die Provokationen aus Moskau

Wer darf auf dem Chefsessel sitzen? Und wer muss sich mit einem Platz auf dem Sofa begnügen? Noch immer streiten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel über diese pikante Frage.

Drei Wochen nach ihrem missglückten Besuch beim türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdoğan beherrscht das „Sofagate“ die außenpolitische Debatte in Brüssel. Erdoğan hatte von der Leyen – dem Protokoll folgend – auf die billigen Plätze verbannt. Michel nahm den Chefsessel ein, statt der ersten Dame aus Brüssel aus der Patsche zu helfen.

Seither liegen in der EU-Kapitale die Nerven blank. „Ich fühlte mich verletzt und allein gelassen, als Frau und als Europäerin“, klagt von der Leyen. So etwas dürfe sich nie wiederholen, beteuert Michel. Die EU-Spitze gebe ein beschämendes Bild ab, waren sich die Abgeordneten des Europaparlaments in einer Krisensitzung einig.

Dabei haben es die Europäer nicht nur mit dem Möchtegern-Sultan vom Bosporus zu tun. Während sie Erdoğan neue Milliardenhilfen in Aussicht stellten, ließ Russlands Staatschef Wladimir Putin tausende Soldaten an der Grenze zur Ukraine aufmarschieren. Eine Zeit lang sah es so aus, als drohe ein neuer Krieg um die Krim und den Donbass.

Diese Gefahr scheint zwar mittlerweile wieder gesunken zu sein. Doch nun verschärft Putin die Repression gegen Kreml-Kritiker Alexej Nawalny und seine Anhänger. Zudem legt sich Russland mit Tschechien an. Eine mysteriöse Explosion aus dem Jahre 2014, hinter der der russische Geheimdienst vermutet wird, hat eine schwere diplomatische Krise ausgelöst.

Doch dazu schweigen Michel und von der Leyen. Die beiden EU-Granden sind so sehr mit sich selbst und ihrem (un-)diplomatischen Machtkampf beschäftigt, dass sie die wohl schwerste außenpolitische Krise seit dem Kalten Krieg aus den Augen zu verlieren drohen. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell wirkt überfordert.

Die Beziehungen zu Russland hätten einen historischen Tiefstand erreicht, sagte Borrell im EU-Parlament. Putin suche „vorsätzlich die Konfrontation mit dem Westen“. Deshalb müsse man sich auf eine „lange und harte Phase“ des Konflikts einstellen. Es klang hoffnungslos und resigniert – einen Ausweg hatte Borrell nicht zu bieten.

Wie auch? Die europäische Doppelstrategie aus Sanktionen und Dialog ist gescheitert. Die Strafmaßnahmen führten nur dazu, dass man künftig nicht mehr mit der EU reden werde, hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow schon im Februar gewarnt. Er ließ Borrell bei einer Pressekonferenz in Moskau auflaufen – seitdem herrscht Funkstille.

Auch das Minsker Abkommen, mit dem Deutschland und Frankreich für eine Befriedung in der Ukraine sorgen wollten, funktioniert nicht mehr. In Brüssel hält man daran zwar noch fest. Doch einen wirksamen Hebel haben die Europäer nicht. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj setzt auf die USA oder die Türkei, um seine Ziele zu erreichen – mit „Minsk“ hat das nicht mehr viel zu tun.

Selbst im Streit zwischen Tschechien und Russland kann Brüssel kaum etwas ausrichten. Eine massenhafte Ausweisung von russischen Diplomaten, wie sie die Regierung in Prag fordert, liegt nämlich nicht im Kompetenzbereich der EU. Darüber können nur die Mitgliedsstaaten oder – wenn es um Diplomaten in Brüssel geht – Belgien entscheiden. Borrell und seinem Auswärtigen Dienst sind die Hände gebunden.

Aus all dem folgt ein Gefühl der Ohnmacht – und der Wut. Die „russische Aggression“ dürfe nicht unbeantwortet bleiben, heißt es im Europaparlament. Die EU-Führung müsse sich berappeln und endlich die „Sprache der Macht“ sprechen. Der Frust richtet sich nicht nur gegen von der Leyen, Michel und Borrell, sondern zunehmend auch gegen Kanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas.

Deutschland, so sehen es viele in Brüssel, ist der „Elefant im Raum“, der mit seiner russlandfreundlichen Politik harte Maßnahmen gegen Putin verhindert. Die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 ist längst zum Symbol für diese vermeintlich antieuropäische Politik geworden. Selbst der Chef der größten Parlamentsfraktion, Manfred Weber, zielt immer öfter auf das umstrittene Projekt.

„Sollte die Lage in der Ostukraine eskalieren, wäre Nord Stream 2 nicht mehr zu halten“, erklärte der CSU-Politiker. Dann müsste das Projekt gestoppt werden – zugunsten der Ukraine, durch die ebenfalls Gas nach Europa strömt. Genauso sehen es viele Osteuropäer, aber auch die deutschen Grünen in Brüssel, die in der Russland-Politik längst eine Koalition mit CDU/CSU eingegangen sind.

Noch laufen die Appelle ins Leere. Außenminister Maas warnt vor „Konfrontationsgeschrei“ und versucht, die Diskussion wieder auf Nawalny zu lenken – weg von deutschen Interessen, hin zur russischen Innenpolitik. Auch die EU-Spitze schweigt. Kommissionschefin von der Leyen erklärte, Nord Stream 2 sei „nicht hilfreich“ – doch einschreiten und das Projekt stoppen will sie offenbar nicht.

Das dürfte – wenn überhaupt – nur den USA gelingen, die bereits intensiv mit Deutschland verhandeln. Aus Washington sind auch am ehesten Impulse für die künftige Russland-Politik zu erwarten. US-Präsident Joe Biden hat neue Sanktionen verhängt, aber auch ein Gipfeltreffen mit Putin vorgeschlagen. Es könnte im Juni in Europa stattfinden, Wien und Helsinki bieten sich als Gastgeber an.

An Brüssel hat offenbar keiner gedacht. An von der Leyen und Michel auch nicht. Nach Lage der Dinge dürften die EU-Spitzen schon froh sein, wenn sie an dem USA-Russland-Gipfel als Zaungäste teilnehmen können, zur Not auch auf dem Sofa.

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