Der Totalschaden

Die überfällige Reform des Wahlrechts droht auch in dieser Legislaturperiode an den Regierungsparteien zu scheitern

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PICTURE ALLIANCE/BILDAGENTUR-ONLINE Bundestagsgebäude
Die Idylle trügt. In den Bundestagsgebäuden könnte es bald noch voller werden.
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Die Idylle trügt. In den Bundestagsgebäuden könnte es bald noch voller werden.

Der Totalschaden

Die überfällige Reform des Wahlrechts droht auch in dieser Legislaturperiode an den Regierungsparteien zu scheitern

Wer nach der Bundestagswahl 2017 prognostiziert hätte, dass es den Regierungsparteien in der anstehenden Legislaturperiode leichter fallen würde, sich auf ein über 200 Milliarden teures Schuldenpaket zu verständigen als auf eine Reform des Wahlrechts, wäre vermutlich für verrückt erklärt worden. Eine solche Reform wäre eigentlich schon in der vorherigen Wahlperiode geboten gewesen, als sich das Problem einer starken Vergrößerung des Bundestages unter dem bestehenden – 2013 novellierten – Bundeswahlgesetz immer deutlicher abzeichnete. Dass sie jetzt erneut zu scheitern droht, ist für die Abgeordneten schlichtweg blamabel.

Die Verantwortung für den Schaden ist keineswegs gleich verteilt. Am wenigsten trifft sie die Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne, denen es – über alle sonstigen politischen Gräben hinweg – gelungen ist, einen gemeinsamen Gesetzentwurf vorzulegen. Dieser sieht eine Neujustierung des Anteils von direkt gewählten und Listenabgeordneten durch eine Erhöhung der regulären Sollgröße des Bundestages von 598 auf 630 Sitze und eine gleichzeitige Reduktion der Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 vor. Das Auftreten von Überhangmandaten würde damit zwar nicht vollständig verhindert, ihre Zahl aber deutlich geringer, womit auch weniger Ausgleichsmandate anfielen. Ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken wurden in der Sachverständigenanhörung gegen den Entwurf nicht geäußert, der zudem den Vorteil hat, dass er an der bestehenden Grundstruktur des personalisierten Verhältniswahlsystems festhält.

Dennoch waren die Regierungsparteien nicht bereit, auf dieser Basis über eine Reform zu verhandeln. Das legitime Ansinnen der Opposition, die Vorlage zumindest zur Abstimmung zu stellen, verhinderten sie in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause mit ihrer Geschäftsordnungsmehrheit – wohl auch aus der Sorge heraus, dass der ein oder andere aus dem eigenen Lager zugestimmt hätte. Hauptursächlich für die Blockade war die Weigerung der Unionsparteien, selbst eine moderate Reduktion der Zahl der Direktmandate zuzulassen. Erst jetzt hat sie sich an dieser Stelle ein wenig bewegt und eine Absenkung auf 280 Mandate vorgeschlagen. Dies dürfte aber zu spät kommen, nachdem die Kandidatenaufstellung in manchen Wahlkreisen bereits erfolgt ist, und würde auch nicht ausreichen, um eine nennenswerte Verkleinerung des Bundestags herbeizuführen.

Der Verdacht, dass man mit dem deutlich vergrößerten Parlament eigentlich ganz gut leben kann, trifft genauso den Regierungspartner SPD. Deren Vorschlag, es bei der Zahl von 299 direkt gewählten Abgeordneten zu belassen, hätte den Vorteil, dass ein Neuzuschnitt der Wahlkreise nicht notwendig wäre – man könnte ihn deshalb auch noch nach der Sommerpause beschließen. Gleichzeitig enthält er aber zwei Komponenten, von denen die Partei weiß, dass sie für die Union eine Zumutung darstellen: Zum einen sollen ab einem Deckel von 690 Abgeordneten die überhängenden Direktmandate mit den prozentual schlechtesten Ergebnissen nicht mehr besetzt werden, was vor allem CDU und CSU träfe. Zum anderen möchte die SPD eine geschlechterparitätische Aufstellung der Listen, womit sich die bürgerlichen Parteien bekanntlich schwertun.

Gerade die Direktwahl der Abgeordneten erfährt durch die Union dabei eine mitunter ärgerliche, durch die Tatsachen wenig gedeckte Erhöhung. Erstens weisen auch Listenabgeordnete eine Wahlkreisbindung auf, zumal sie häufig selbst als Direktkandidaten antreten. Zweitens vermitteln die unter den Parlamentariern der CDU/CSU überproportional zu vermeldenden Nebentätigkeiten nicht den Eindruck, dass alle mit ihrer Wahlkreisarbeit voll ausgelastet sind. Drittens können wir die Kandidaten im Wahlkreis mit unserer Erststimme zwar wählen, aber nicht abwählen (wenn er oder sie zugleich über einen sicheren Listenplatz verfügt). Und viertens gelingt es im heutigen Sechsparteiensystem nur noch wenigen Direktkandidaten, im Wahlkreis eine absolute Mehrheit zu bekommen. 2017 waren es gut vier Prozent – im Vergleich zu 66 Prozent bei der Bundestagswahl 1983.

Untauglich sind auch die fortgesetzten Versuche der Union, das 2012 im Wahlgesetz verankerte Prinzip des vollständigen Proporzes wieder rückgängig zu machen, indem nicht alle Überhänge ausgeglichen oder verrechnet werden. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in bestimmten Grenzen zwar für zulässig erklärt. Weil von den Überhängen im Moment nur die Union profitiert, können und werden die anderen Parteien sich darauf aber kaum einlassen. Dies gilt inzwischen auch für die FDP, die das überhangfreundliche Wahlrecht früher lange Zeit mitgetragen hatte.

Wie geht es nun weiter? Wenn die Reform ausbleibt und wir nach der nächsten Bundestagswahl ein ähnlich großes oder womöglich noch größeres Parlament vorfinden, wird das Thema Ende 2021 erneut auf der Agenda stehen. Sollte man den Parteien dann eine dritte Chance geben, nachdem sie in dieser und in der vergangenen Legislaturperiode so offenkundig versagt haben?

Das Problem der Wahlrechtsreform liegt darin, dass Parteien und Abgeordnete davon im Unterschied zu anderen politischen Themen unmittelbar selbst betroffen sind – geht es doch schließlich um die Grundlagen ihrer eigenen Macht und Existenz. Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb gerade in solchen Fragen einen besonders hohen Kontrollanspruch für sich reklamiert, der aber immer nur nachträglich wirken und die Verantwortung des Gesetzgebers nicht ersetzen kann. Ist dieser selber in seinen Interessen befangen, stößt das normale parlamentarische Entscheidungsverfahren zwangsläufig an Grenzen.

Der Vorschlag der SPD, nach der Wahl eine Kommission einzusetzen und dieser die Ausarbeitung einer Reform zu übertragen, böte einen Ausweg. In einer solchen Kommission würden nur zum kleineren Teil Abgeordnete sitzen, der größere Teil bestünde aus Sachverständigen und Bürgern. Letztere wären wiederum – um ihre Unabhängigkeit sicherzustellen – nach dem Zufallsprinzip auszuwählen. Die breitere Zusammensetzung würde nicht nur die Chancen auf eine wirklich nachhaltige, bei den Ursachen ansetzende Reduktion der Überhang- und Ausgleichsmandate erhöhen. Sie hätte zugleich den Vorteil, dass im Rahmen der Reform auch andere Probleme des bestehenden Wahlrechts behandelt werden könnten. Zu nennen sind hier etwa die Geschlechterparität, das Zweistimmensystem, die Fünfprozenthürde (einschließlich Grundmandatsklausel), das Wahlalter und die Dauer der Legislaturperiode.

Die Große Koalition hatte eigentlich schon für diese Wahlperiode eine Kommission einsetzen wollen, die sich mit Fragen der Bürgerbeteiligung und direkten Demokratie beschäftigt. Die Wahlrechtsreform wäre eine Gelegenheit, auch auf diesem Feld den Worten endlich Taten folgen zu lassen.

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