Für eine konsequente Aufarbeitung des Scheiterns in Afghanistan

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RULA ROUHANA Erst einmal in Sicherheit: Ein vor den Taliban geflüchtetes afghanisches Mädchen am Flughafen in Dubai. Und jetzt?
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Erst einmal in Sicherheit: Ein vor den Taliban geflüchtetes afghanisches Mädchen am Flughafen in Dubai. Und jetzt?

Für eine konsequente Aufarbeitung des Scheiterns in Afghanistan

Die Lage in Afghanistan bleibt weiterhin dramatisch, und obwohl die Evakuierungen von deutschen Staatsangehörigen und afghanischen Ortskräften auf Hochtouren laufen, gibt es noch lange keinen Grund zur Entwarnung. Beschönigungen helfen nicht: Die internationale Gemeinschaft, die Bundesregierung und unsere Geheimdienste, aber auch andere haben die Lage verkannt und falsch eingeschätzt.

Spätesten seit dem Abkommen von Doha (bei dem Donald Trump im Februar 2020 offizielle Verhandlungen mit den Taliban unter Ausschluss der afghanischen Regierung führte und zugleich auch noch das konditionslose Abzugsdatum auf Ende April 2021 festlegte) war klar, dass der Afghanistan-Einsatz gescheitert ist und die USA auf dem „Friedhof der Imperien“ das Schicksal ihrer britischen und sowjetischen Vorgänger erleiden werden. US-Präsident Biden musste das vergiftete Erbe von Trumps Abkommen mit den Taliban übernehmen, und diese mussten nur noch abwarten. Aus innenpolitischen Gründen hat Biden sich entschieden, an dem Abzug festzuhalten. Fatal war, dass das Zeitfenster für den Abzug viel zu klein war und damit die Entwicklung nicht mehr steuerbar. Mehr noch: Deutschland und die übrigen Nato-Partner haben wieder einmal erfahren müssen, dass der amerikanische Partner am Ende – Nato-Konsultierungen hin oder her – doch seine eigenen (Abzugs-)Entscheidungen trifft und die Verbündeten damit vor vollendete Tatsachen stellt.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Afghanistan nicht nur vom „Westen“, sondern auch von der korrupten afghanischen Regierung unter Ashraf Ghani und der Führung der Sicherheitskräfte verraten wurde. Die Ausrüstung und das Material der afghanischen Streitkräfte sind jetzt in den Händen der Taliban. Die Folgen des Umsturzes für die Menschen in Afghanistan, die in den vergangenen Jahren zunehmende Freiheiten und Fortschritte genießen konnten, aber auch für die Region sowie die internationale Staatengemeinschaft, kann derzeit niemand seriös vorhersehen.

Deutschlands Rolle in der Nato

Für die Bundeswehr und die verbündeten Streitkräfte war von Anfang an klar, dass sie zusammen mit den USA rein und mit den USA rausgehen. Der Grund für die deutsche Beteiligung war ursprünglich die Ausrufung des Bündnisfalles nach Artikel 5 des Nato-Vertrages nach den Terrorangriffen des 11. September. Dies geschah durchaus auch in der Absicht, amerikanische Alleingänge zu verhindern. Während die USA sich auf die Terrorbekämpfung und das Militärische konzentrierten, standen im Mittelpunkt des deutschen ISAF-Engagements die Unterstützung von Wiederaufbauprojekten, Demokratie, Menschen- und Frauenrechte und der Aufbau einer afghanischen Zivilgesellschaft. Dies wurde flankiert durch die Petersberg-Konferenzen in Bonn und erhebliche Mittel im Rahmen des Wiederaufbaus und der humanitären Hilfe. Insgesamt flossen seit 2001 mehr als 16 Milliarden Euro in den Aufbau des Landes, bis zuletzt haben mehr als #160000 deutsche Soldatinnen und Soldaten sowie Polizistinnen und Polizisten im Land gedient, 59 deutsche Soldaten und drei deutsche Polizisten ließen dabei ihr Leben. Es waren vor allem diese Ziele, die der Deutsche Bundestag in seinen jährlichen Entsendungsmandaten fast 20 Jahre unterstützte, die zudem durch ein Mandat des UN-Sicherheitsrates legitimiert waren.

Der Einsatz war von Anfang an nicht unumstritten. Zumal die Bush-Regierung offensichtlich weniger Interesse an einem Staatsaufbau in Afghanistan hatte, sondern den „Krieg gegen den Terror“ 2003 auf den Irak ausweitete. Die SPD-geführte Regierung unter Gerhard Schröder hat nicht nur aufgrund der fehlenden völkerrechtlichen Legitimation das sich abzeichnende Desaster und Machtvakuum im Irak vorhergesehen und sich einer Beteiligung verweigert.

Die richtigen Konsequenzen

Wir müssen aus Afghanistan und anderen Auslandseinsätzen die richtigen Lehren ziehen. Deshalb fordert die SPD bereits in ihrem Regierungsprogramm eine Enquete-Kommission des Bundestages in der kommenden Legislaturperiode, die unter Einbeziehung verschiedener Expertinnen und Experten Konsequenzen aus den vergangenen und gegenwärtigen Mandaten ziehen und handlungsleitende Vorschläge für die Durchführung laufender und zukünftiger Friedenseinsätze formulieren soll. Die Fehler, die bei der politischen Bewertung der Situation in Afghanistan gemacht wurden, müssen gerade mit Blick auf Einsätze wie in Mali tiefgreifend aufgearbeitet werden. Ohne Ergebnisse vorwegnehmen zu wollen, lässt sich jetzt schon sagen, dass das idealistische Projekt des Nation Building von außen zum Scheitern verdammt ist, wenn es in der Bevölkerung und ihren politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht den Willen dazu gibt. Wichtig bleibt auch, dass deutsche Außenpolitik sich auf diplomatische, entwicklungspolitische und humanitäre Maßnahmen konzentriert und diese Instrumente konsequent stärkt.

Obwohl die Evakuierung von möglichst vielen Menschen aus Afghanistan gerade erst begonnen hat, melden sich bereits jetzt einige Unionspolitiker, darunter Armin Laschet, zu Wort und verlangen nach der Einsetzung eines Nationalen Sicherheitsrats im Kanzleramt und reklamieren weitere exekutive Befugnisse. Diese Forderung zeugt von einer mangelnden Bereitschaft, zuerst die Schwachstellen der Lageeinschätzung zu benennen. Immerhin sind die deutschen Nachrichtendienste dem Kanzleramt zugeordnet und rechenschaftspflichtig. Warum es dann in diesem Haus noch weitere administrative Kompetenzausweitungen geben soll, erschließt sich nicht. Die Stärkung sicherheitspolitischer Befugnisse im Kanzleramt widerspricht dem bewährten Ressortprinzip und ist letztlich der Versuch, die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik, in deren Feld sich auch das Parlament eigene Expertise und Mitwirkungsrechte erarbeitet hat, zu zentralisieren.

Afghanistan und die Konsequenzen für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik

Das Zeitalter der humanitären Interventionen, das 1992 mit der UN-Mission UNOSOM in Somalia begann, ist endgültig an sein Ende gekommen. Wir brauchen eine Neubewertung der westlichen Außenpolitik. Mit Ausnahme des Balkans sind alle westlichen Interventionen gescheitert – wenn auch nicht so dramatisch wie derzeit in Afghanistan.

In der aufziehenden Ära geopolitischer Rivalitäten wird Afghanistan zum Anziehungsort für regionale Hegemonialmächte werden, die wie im Irak und Syrien versuchen werden, das entstehende Machtvakuum zu füllen. Russland, der Iran und an erster Stelle China sind hier zu nennen. Im Nachhinein könnte sich das Treffen zwischen dem chinesischen Außenminister Wang Ji und dem Talibanführer Mullah Abdul Ghani Baradar Ende Juli in Nordchina als Menetekel für den wachsenden Einfluss Pekings in der gesamten Region erweisen. Deshalb müssen wir nun alles dafür tun, um Pakistan und die Nachbar- und Regionalstaaten stärker einzubinden und auch finanziell bei der Bewältigung der Flüchtlingsströme zu unterstützen. Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR braucht dringend mehr Geld.

Die Zukunft der Region ist ungewisser denn je. Nicht nur für Afghanistan bricht jetzt ein neues Kapitel an, auch für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet die Machtübernahme der Taliban eine Zäsur, die Folgen haben wird und muss.

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