Hilflos am Hindukusch

Afghanistan war Deutschlands längster und ambitioniertester Auslandseinsatz. Dass er im Chaos endet, zeugt von einer Außenpolitik der Risikovermeidung

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PICTURE ALLIANCE/DPA | HENNING KAISER Als dem Anfang noch ein Zauber innewohnte: Vor zwanzig Jahren fand die erste Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg statt.
Als dem Anfang noch ein Zauber innewohnte: Vor zwanzig Jahren fand die erste Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg statt.
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PICTURE ALLIANCE/DPA | HENNING KAISER Als dem Anfang noch ein Zauber innewohnte: Vor zwanzig Jahren fand die erste Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg statt.
Als dem Anfang noch ein Zauber innewohnte: Vor zwanzig Jahren fand die erste Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg statt.

Hilflos am Hindukusch

Afghanistan war Deutschlands längster und ambitioniertester Auslandseinsatz. Dass er im Chaos endet, zeugt von einer Außenpolitik der Risikovermeidung

Es gab eine Zeit, da stand Deutschland in Sachen Afghanistan-Politik, wenn nicht im Zentrum des Geschehens, so doch nahe dran. Die Bundesregierung war Ende 2001 Gastgeberin der ersten Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn. Nach dem schnellen militärischen Sieg der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeter über das erste Regime der Taliban (1996-2001) wurden dort die Grundlagen für das neue Afghanistan gelegt. Allerdings hatte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Krieg mit „leichtem Fußabdruck“, wenig eigenen Truppen und CIA-Agenten mit großen Bargeldkoffern führen lassen. So stand der neue Staat von Anfang an auf den tönernen Füßen einer Korruption von später gigantischen Ausmaßen.

Zehn Jahre später, als die Afghanistan-Konferenz erneut auf dem Petersberg stattfand („Bonn 2“), hatten sich viele Hoffnungen bereits zerschlagen. Die Taliban waren zurück und lieferten sich vor allem in den südlichen Provinzen schwere Gefechte mit den Amerikanern und Briten. Aber auch im Norden, wo die Bundeswehr stationiert war, wurde der Konflikt blutiger – mit dem „Karfreitagsgefecht“ vom 1. April 2010 als einschneidendem Ereignis.

Aufstandsbekämpfung a. D.

Zu der Zeit gab es Versuche, mit Truppenaufstockungen und Counterinsurgency-Strategien die Wende zu schaffen, aber dies bereits unter der Maßgabe von nur noch innenpolitisch motivierten Zeitfenstern. Damit tickte die Uhr – die Taliban konnten sich zurücklehnen. Auf „Bonn 2“ wurde der Abzug westlicher Kampfverbände bis 2014 verabredet, und tatsächlich beschränkte sich der Einsatz der westlichen Truppen danach vor allem auf Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Armee und Polizei. Der Westen versprach zudem, beide langfristig zu finanzieren. Ob zum Beispiel diese Gelder immer „unten“ ankamen, ist unklar; in den vergangenen Monaten war dies wohl zumindest bei vielen Polizeieinheiten nicht mehr Fall.

Dennoch hatte die deutsche Außenpolitik damals noch Ambitionen. Die Bemühungen des deutschen Sondergesandten für Afghanistan und Pakistan („AfPak“), Michael Steiner, führten zu ersten direkten Kontakten zwischen Amerikanern und den Taliban und der Einrichtung einer „Auslandsvertretung“ der Radikalislamisten in Katar. Dort fanden praktisch bis zum Fall von Kabul diese Woche Gespräche statt, ohne Ergebnis. Die Taliban sprachen von Waffenstillständen und mordeten weiter. Nach Donald Trumps Abkommen mit ihnen und der Ankündigung, bedingungslos abziehen zu wollen, hatten Washington und seine Partner dann überhaupt keine Druckmittel mehr in der Hand.

Politik ohne Gestaltungswillen

Ambitionen konnte man der deutschen Politik am Hindukusch derweil schon lange nicht mehr nachsagen – was Teil der Erklärung ist, warum der Einsatz dieser Tage so chaotisch und beschämend endet. Seit Jahren schon stand für die Bundeswehr der Selbstschutz an höchster Stelle, Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte keine Toten mehr. Mit der Luftbrücke aus Kabul hat Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer immerhin entschieden, aus einer katastrophalen Situation das Bestmögliche zu machen; und doch wird es „zu wenig, zu spät“ sein, selbst wenn sich die Amerikaner den Kabuler Flughafen noch etwas länger als bis Ende August sichern, wie bislang geplant.

Warum die Bundeswehr im Juni abzog, ihre afghanischen Unterstützer aber zurückließ, während sich die beteiligten Ministerien offenbar nicht einigen konnten, wer als „Ortskraft“ (im amerikanischen Sprachgebrauch übrigens: Afghan allies) gelten könne und wer nicht, wird womöglich erst nach den Bundestagswahlen ein Untersuchungsausschuss aufklären. Warum man aber den von US-Präsident Joe Biden im April bestätigten Abzugsbeschluss der Amerikaner hinnahm, ohne im Nato-Rahmen zumindest Kritik zu üben, ist befremdlich angesichts der Tatsache, dass der einsame Entschluss des Weißen Hauses in Berlin zugleich so viel Anlass zu transatlantischer Verbitterung gab. In einer solchen Situation alternative Optionen nicht auszuloten oder zumindest auf einen ausgedehnteren Zeitplan zu drängen, ist Ausdruck einer Politik, die keinen Gestaltungswillen mehr hat.

Papiertiger und Fehleinschätzungen

So folgte der Fall von Kabul an die Taliban einer gewissen Gesetzmäßigkeit: Hinter den Betonblöcken stark abgesicherter Militärlager bekam man nicht mehr so viel davon mit, was im Land selbst passierte. Und die allgegenwärtige Korruption haben auch deutsche Stellen als quasi gottgegeben hingenommen, zumindest nie aktiv bekämpft. Sie hat dafür gesorgt, dass die afghanische Bevölkerung – und gerade der Teil, der für Demokratie und Menschenrechte eintrat – den Machthabern nach 2001 von Hamid Karzai bis Ashraf Ghani nie getraut hat. Vieles in Afghanistan bestand oft nur auf dem Papier. Dass man, wie Außenminister Heiko Maas diese Woche zugab, „die Lage falsch eingeschätzt hat“, ist dann keine Überraschung.

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt, das das Unglück hat, an einem neuralgischen Punkt auf der geostrategischen Weltkarte zu liegen. Die große Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit und der Medien an dem Schicksal des Landes deutet darauf hin, dass sich Deutschland seiner Verantwortung durchaus bewusst ist – und auch der Tatsache, dass die Ereignisse noch gravierende Folgen nach sich ziehen werden.

Die pyromanische Feuerwehr

Die deutsche Außenpolitik war mit der gesamtstrategischen Situation durchaus vertraut. Dass die Taliban ein Projekt des pakistanischen Militärgeheimdienstes ISI sind und Pakistan die Rückkehr der Taliban nach 2001 überhaupt erst ermöglicht hat, ist bekannt. Pakistans Militärführung spielt seit Jahrzehnten die Rolle einer pyromanischen Feuerwehr, die mit dem Zuwachs an eigener „strategischer Tiefe“ in Afghanistan den Nachbarn und Erzfeind Indien im Zaum halten will. Sie fördert damit den islamistischen Extremismus auch im eigenen Land. Dass Wladimir Putins Russland und Xi Jinpings China die Demütigung des Westens mit Genugtuung verfolgen und ihren Vorteil suchen werden, ist in Berlin auch allen klar.

Und selbst diejenigen, die froh seien mögen, dass Deutschland „raus aus Afghanistan“ ist, werden bald spüren: Deutschland und andere Europäer können sich nicht „heraushalten“, schon weil die Entwicklungen in Zentralasien und der muslimischen Welt keinen Bogen um Europa machen werden. Dass ein neues „Kalifat“ die mächtigen USA und ihre Nato-Verbündeten verjagt hat und dass 20 Jahre nach den Al-Kaida-Anschlägen auf New York und Washington über Kabul wieder die Taliban-Fahne weht, ist von starker Symbolwirkung. Zugleich werden die Taliban in Sachen Regierungsführung kaum etwas dazugelernt haben – von den bereits begangenen und noch zu erwartenden Gräueltaten ganz zu schweigen.

Aber eine Außenpolitik, deren oberste Maxime ist, nichts zu riskieren, ist eben zum Zuschauen verdammt.

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